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Das Max-Planck-Institut für Kohlenforschung

Kaiser Wilhelm-Institutes für Kohlenforschung, Quelle: Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr

Von: Manfred Rasch

Wenn man heute den Mülheimer Hauptbahnhof verlässt und nach Süden schaut, so sieht man – an der richtigen Stelle – ein 37 m hohes Hochhaus den Kahlenberg überragen. Ein ähnlicher Anblick bot sich dem Bahnreisenden schon vor fast 100 Jahren, nur dass der Bahnhof damals noch nicht Hauptbahnhof hieß und dass der Betrachter noch kein Hochhaus, das Laborgebäude des Max-Planck-Instituts für Kohlenforschung, sah, sondern das wenige Tage vor Beginn des Ersten Weltkriegs feierlich eingeweihte Kaiser-Wilhelm-Institut für Kohlenforschung. Es war das erste Institut der 1911 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft (KWG), das nicht in Berlin beheimatet war, und es war das erste Kaiser-Wilhelm-Institut, an dessen feierlicher Eröffnung Kaiser Wilhelm II. als Protektor der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft nicht persönlich teilnahm. Letzteres hing nicht mit dem drohenden Krieg zusammen, sondern mit dem gespannten Verhältnis rheinisch-westfälischer Montanindustrieller zum sich byzantinisch gebärdenden Kaiser, der sich 1899 in den Bergarbeiterstreik eingemischt und eine Arbeiterdelegation empfangen hatte. Außerdem war mit der Bauausführung nicht wie bei allen anderen Instituten der KWG der Hofarchitekt Eberhard von Ihne beauftragt worden, sondern aus Kostengründen der städtische Beigeordnete und Stadtbaumeister Karl Helbing.

Die Initiative zur Institutsgründung ging auf den Großindustriellen, RWE-Aktionär und Mülheimer Bürger Hugo Stinnes zurück, der die direkte Verstromung der Kohle, ein bis heute nicht ökonomisch rentabel gelöstes Problem, wissenschaftlich bearbeitet sehen wollte. Aus diesem Grund wurde auch der an der Technischen Hochschule [Berlin-] Charlottenburg lehrende Elektrochemiker Prof. Franz Fischer (1877-1947) zum ersten Institutsdirektor berufen. Er bemühte sich persönlich um die Bauplanung, wollte er doch ein funktionales Forschungsinstitut mit ausreichend Experimentierplatz für die nächsten Jahrzehnte errichten. Zur Information über chemische Laboratorien und Forschungsinstitute bereiste er 1912/13 nicht nur die im Ruhrgebiet gelegenen Forschungseinrichtungen der Firmen Krupp in Essen und der Gesellschaft für Teerverwertung in Duisburg-Meiderich, sondern auch das Institut von Professor Hans Bunte an der TH Karlsruhe, eine Lehr- und Versuchsgasanstalt, und die Nobel-Institute des schwedischen Elektrochemikers Svante Arrhenius in Uppsala und Stockholm.

Mit Karl Helbing und dessen Mitarbeiter Theodor Suhnel, der später in Mülheim als freier Architekt (u. a. Hauptfriedhof) zu Ruhm gelangen sollte, entwarfen Franz Fischer und dessen Mitarbeiter Richard Lepsius erste Skizzen und Raumpläne für ein großes Forschungsinstitut auf dem fast noch unbebauten Kahlenberg. Die Stadt hatte dieses Gelände angekauft und förderte damit die geplante Villenbebauung in den nächsten Jahrzehnten. Außerdem sollten Ende der 1920er Jahre dort errichtete institutseigene Wohnhäuser für Wissenschaftler den Weg von der Wohnung zum Institut verkürzen, besaß doch auch der Institutsdirektor eine durch einen überdeckten Gang mit dem Kohlenforschungsinstitut verbundene Direktorenvilla.

Diese war auf Wunsch des Institutskuratoriums äußerst großzügig für den Noch-Junggesellen Franz Fischer ausgefallen, damit dieser mit den Industriellen der Region, die in seinem Institutskuratorium saßen, statusgemäß verkehren konnte. Aus dem gleichen Grund besaß der Düsseldorfer Regierungspräsident neben seinem Amtsgebäude ebenfalls eine repräsentative Dienstvilla, die nicht unbedingt seinem Dienstgehalt, wohl aber seiner gedachten sozialen Stellung in der Wilhelminischen Gesellschaft entsprach.

Die Stadt Mülheim war sehr an der Ansiedlung des ersten wissenschaftlichen Instituts des Ruhrgebiets auf ihrem Stadtgebiet interessiert und mobilisierte dafür Mittel der gemeinnützigen Leonhard-Stinnes-Stiftung, um sich in dem seit der Hochindustrialisierung herrschenden Wettstreit mit den anderen Ruhrgebietsstädten um soziales Prestige durch Infrastrukturen wie Schulen, Theater und Bibliotheken nun durch ein Forschungsinstitut als Wissenschaftszentrum regional hervorzuheben. Aus dem gleichen Grund hatte sich Jahre zuvor die Stadt Dortmund erfolglos um die Gründung einer westfälischen Technischen Hochschule bemüht.

Von April 1913 bis Juli 1914 entstand das zweigeschossige, streng symmetrisch gegliederte Forschungsinstitut mit eigenem Hörsaal und Bibliothek sowie separatem „Fabrikgelände“ (einer Versuchsanlage für protoindustrielle Prozesse) und dem schon erwähnten Direktorenwohnhaus. Theodor Suhnel hatte schon im März 1913 um seine Entlassung gebeten und war durch den Architekten Theophil Weiß ersetzt worden. Zusammen mit Franz Fischer sorgte er dafür, dass das Institut und das Direktorenhaus technisch auf dem neuesten Stand waren (Überdruckbelüftung, verschiedene Stromspannungskreise etc.). Am 27. Juli 1914 konnte das Kohlenforschungsinstitut eröffnet werden.

Das Institut, zunächst durch den Kriegsbeginn nahezu verwaist, dann in die deutschen Kriegsanstrengungen für Ersatzstoffe mit einbezogen, war für ein Jahrzehnt überdimensioniert. Erst mit Entdeckung der Fischer-Tropsch-Synthese zur Gewinnung flüssiger Kohlenwasserstoffe aus den Gasen Wasserstoff und Kohlenmonoxid im Jahr 1925 konnte das Institut mehr Wissenschaftler, Techniker und Doktoranden einstellen. Schon vorher hatten sich die Stadt Mülheim und Franz Fischer um die Ansiedlung weiterer Kaiser-Wilhelm-Institute auf dem Kahlenberg bemüht, weil sich Fischer und seine Mitarbeiter in Mülheim in der wissenschaftlichen Diaspora fühlten und weil die Stadt den Kahlenberg zu einem Wissenschaftszentrum vergleichbar Berlin-Dahlem, wo die anderen Kaiser-Wilhelm-Institute beheimatet waren, entwickeln wollte. Sowohl die Ansiedlung der Eisen- (1917) und der Lederforschung (1921) sowie der Arbeitsphysiologie (1929) scheiterten. Auch die Erweiterung des Instituts um eine selbstständige physikalische Kohlenforschungsabteilung (1930) scheiterte, letzteres an den fehlenden Geldern infolge der Weltwirtschaftskrise.

Dafür war aber 1926/27 das Fabrikgelände zu einer großen Versuchsanlage erweitert worden, um die Fischer-Tropsch-Synthese möglichst schnell zur industriellen Reife zu entwickeln, und 1929 ein eigenes Hörsaalgebäude errichtet worden, um das gestiegene (wirtschaftliche) Interesse an den wissenschaftlichen Vorträgen des Institutes befriedigen zu können. Letzteres geschah wieder in einer gewissen Konkurrenz zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die in Berlin-Dahlem für ihre Vorträge und ihre (ausländischen) Gäste Jahre zuvor das Harnack-Haus errichtet hatte.

Das Hörsaalgebäude soll in nächster Zeit durch ein modernes Gebäude ersetzt werden. Dieser Neubau wird den Altbau, das Verwaltungsgebäude und das Laborhochhaus miteinander verbinden und zudem als zentraler Eingang dienen. Erst mit der Errichtung einer selbständigen Abteilung für Strahlenchemie zum 1. April 1958 sollte der Grundstein für ein zweites Forschungsinstitut in Mülheim an der Ruhr gelegt werden, das seit 1981 selbstständige Max-Planck-Institut für Strahlenchemie, 2003 in MPI für bioanorganische Chemie umbenannt.

Nach dem altersbedingten Ausscheiden von Franz Fischer wurde zum 1. Oktober 1943 der in Halle/Saale lehrende Grundlagenforscher Prof. Karl Ziegler zum Institutsdirektor mit weitreichenden Zusagen zu Forschungsgebieten und Mittelausstattung berufen. Unter ihm wurde das im Krieg nicht beschädigte Institut 1949 in Max-Planck-Institut für Kohlenforschung unbenannt. Es wurde 1939 eine Stiftung privaten Rechts und besitzt bis heute dieses Alleinstellungsmerkmal innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft.

Nachdem Karl Ziegler und seine Mitarbeiter Heinz Breil, Erich Holzkamp und Heinz Martin 1953 ein Verfahren zur Herstellung von Polyethylen bei Normaldruck entwickelt hatten, begann das weltweite Kunststoff-Zeitalter in Industrie und Haushalt. Lizenzeinnahmen in Millionenhöhe flossen dem Institut zu.

Um das Verfahren, aber auch andere für die Industrie interessante metallorganische Prozesse zu erforschen und zu entwickeln, wurde im Sommer 1956 zunächst eine Laborbaracke im Institutshof errichtet: Ein Provisorium, das mehrere Jahrzehnte bestehen sollte. 1957 wurde eine Versuchsanlage als Ersatz für die unzureichende Anlage aus den 1920er Jahren errichtet, die 1982 um ein Drucktechnikum erweitert wurde. Gleichzeitig plante Karl Ziegler ein neues Bibliotheks- und Verwaltungsgebäude, das im September 1962 in Betrieb genommen wurde und heute die Adresse Lembkestraße 7 trägt. Pläne, zum 50. Institutsjubiläum das eingangs erwähnte Laborhochhaus einweihen zu können, zerschlugen sich zunächst an Einsprüchen der Anwohner, die dem 1963 mit dem Chemie-Nobelpreis Geehrten nicht eine Verbesserung seiner Arbeitsbedingungen zubilligten, sondern auf die ursprüngliche Villenbebauung des Kahlenbergs pochten. Letztlich nahmen auch sie ihre Einsprüche gegen das Hochhaus zurück, und der Bau konnte 1968 bezogen werden.

Eine Eigenart des Laborhochhauses ist seine Raumaufteilung. Nach Süden, zum Institutshof, liegen die 6 m hohen Laboratorien. Hier weist das Gebäude nur fünf Geschosse von jeweils doppelter Normalhöhe auf, während nach Norden 11 Geschosse mit normaler Höhe liegen, in denen Büros und Nebenräume untergebracht sind. Beide Gebäudehälften sind durch Korridore verbunden, wobei die Korridore in den Stockwerken mit ungerader Zahl galerieartig sind. Sie erlauben einen Einblick in die einzelnen Laboratorien, hier Boxen genannt. Jede Doppeletage besitzt fünf Labor-Boxen.

Ende der 1960er Jahre wurde in dem alten Direktorenwohnhaus eine Mensa eingerichtet, nachdem sich Karl Ziegler gegenüber eine moderne Villa gebaut hatte. Der seit 1969 amtierende neue Institutsleiter Prof. Günther Wilke ließ 1980 ein Werkstattgebäude und 1981 ein sogenanntes Physikgebäude für die physikalischen Forschungseinrichtungen einschließlich Datenverarbeitung errichten.

(Aus: Zeugen der Stadtgeschichte: Baudenkmäler und historische Orte in Mülheim an der Ruhr, hrsg. vom Geschichtsverein Mülheim an der Ruhr e.V., Klartext Verlag, Essen 2008)

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