Von: Daniel Menning
Die Villa als Bautyp
Das erste Stockwerk niedrig, eigentlich kaum existent – zwar mit einem schönen Park, aber auch direkt neben der eigenen Fabrik gelegen, so dass man ob der unangenehmen Gerüche bei Nordwind niemanden einladen kann – ein zweites Treppenhaus, durch welches die Dienerschaft praktisch unsichtbar die Arbeit verrichten könnte, aus Platzmangel weggelassen – so kann man Theodor Fontanes mit Ironie beladene Beschreibung der Villa des großbürgerlichen Fabrikbesitzers Kommerzienrat Treibel zusammenfassen („Frau Jenny Treibel“, 1893). Dabei entstammt seine Frau Jenny Treibel selbst nicht dem Großbürgertum, zählt vielmehr zur Gruppe der Parvenüs und achtet daher ganz besonders auf ihre Vorrechte und die Details, welche die feine Gesellschaft von den Möchtegerns unterscheiden. Andererseits zeigt aber die Beschreibung der Villa, dass sie es nicht vermocht hat, ihre Wurzeln vollkommen hinter sich zu lassen, ihre Adaption ans Großbürgertum bleibt unvollkommen, auch wenn sie eine Villa ihr Heim nennen kann.
Denn in einer Villa zu wohnen, das war im Kaiserreich ein Statussymbol. In ihr konnte sich das gehobene vom niederen Bürgertum optisch distanzieren und so wurde die Villa zwischen 1860 und dem Ersten Weltkrieg zum Massenphänomen. Durch die Gründerphase nach Entstehung des Kaiserreiches 1871 und eine gute Konjunktur seit den 1860er Jahren befördert, entwickelte sich bis etwa 1873 eine rege Bautätigkeit, die allerdings durch den so genannten Gründerkrach und den darauffolgenden wirtschaftlichen Abschwung abrupt beendet wurde. Die gute Konjunktur seit Mitte der 1880er Jahre führte dann erneut zur Expansion des Villenbaus. Immer neue Randlagen der Städte wurden wegen ihrer günstigeren Bodenpreise erschlossen. Es entstanden Villenviertel und Villenkolonien. Hier konnten sich auch weitere Kreise des Bürgertums, wie zum Beispiel höhere Beamte, den Traum von einer Villa erfüllen. Gleichzeitig setzte man sich damit von der Arbeiterschaft der wachsenden Städte ab und schuf sich seinen eigenen Lebensraum. Die verbesserte Infrastruktur, vor allem in Form von Vorortzügen und Stadtbahnen, ermöglichte andererseits auch das tägliche Pendeln zum Arbeitsplatz über größere Distanzen, eine Grundbedingung für den Villenbau an den Stadträndern. Ebenso kam es innerhalb der Städte zur Bebauungsverdichtung, so dass auch hier neue Villen errichtet werden konnten. In kleineren Städten fand die Villenkonzentration zumeist im Bereich einzelner Straßen oder Straßenabschnitte statt. Insgesamt wurde die soziale Trennung innerhalb der Stadt und an ihren Rändern durch den Villenbau befördert und optisch manifestiert.
Damit einher ging allerdings ein Bedeutungswandel des Begriffs „Villa“. Von den römischen Ursprüngen her hatte sie auf dem Land liegen sollen, umgeben von großen, landwirtschaftlich genutzten Flächen. Dies wandelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, die Villa näherte sich der Stadt bzw. wurde in sie einbezogen, so dass am Jahrhundertende eine Anzahl unterschiedlicher Typen unterschieden werden kann. Die freistehende Villa mit großzügigem Park war verständlicherweise die exklusivste Form, jedoch war bei ihr, wie bei allen anderen Formen, der agrarische Zusammenhang verloren gegangen. Die Villa an der eigenen Fabrik im Stile der Familie Treibel hatte sich nicht durchsetzen können, zu sehr schadeten Lärm und Schornsteinqualm der Gesundheit. Sie hatte allerdings gedanklich der antiken Villa noch nähergestanden, da hier der Fabrikherr in direkter Nähe zu seiner Fabrik wohnte, welche die antike Landwirtschaft ersetzt hatte. Am häufigsten waren hingegen die an der Straße orientierten Einzel-, Doppel-, Vierfach- oder Mietsvillen für mehrere Familien, die allesamt einen nennenswerten Garten nur hinter dem Haus besaßen. Sie waren je nach Bauform und Größe wesentlich günstiger, ermöglichten es aber dennoch, individuellen Reichtum und Repräsentationswünsche zu berücksichtigen. Einen besonderen Typus stellte die Villenkolonie dar. Für sie hatten Spekulanten größere Flächen an den Stadträndern aufgekauft und parzelliert. Sie sind zumeist an einem relativ einheitlichen Baustil zu erkennen, die gewachsenen Villenviertel hingegen an der Vielfalt der Baustile.
Dass überhaupt eine größere Stilvielfalt möglich war, ist neben dem Bedeutungswandel des Villenbegriffs und der Vergrößerung des Anteils möglicher Bauherren an der Gesamtbevölkerung ein weiteres Charakteristikum des Villenbaus dieser Zeit. Hatte man um die Wende zum 19. Jahrhundert noch hauptsächlich klassizistisch gebaut, so kam es in den folgenden Jahrzehnten nicht zur Entwicklung eines neuen Stils, sondern vergangene wurden wiederentdeckt. Ratgeber und Architekturzeitschriften ermöglichten Bauherren die individuelle Wahl. Es entstanden die unter dem Begriff ‚Historismus’ zusammengefassten Neobaustile. Die Neogotik zwischen 1850 und der Reichsgründung, die Neorenaissance im Reichsgründerjahrzehnt und in den 1880er Jahren schließlich der Neobarock – dies zeigt den Möglichkeitshorizont. In den 1880er und 1890er Jahren wurden Villen in verschiedensten Stilen und Stilmischungen erbaut. In der Zeit Kaiser Wilhelms II. erlebten dann auch die Romanik und nach der Jahrhundertwende der Klassizismus als Neobaustile ihren Wiederaufstieg. Zu all diesen Stilphasen parallel verlief der so genannte „altdeutsche Stil“. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts äußerte sich jedoch auch Kritik an dieser Vielfalt, die sich einerseits in der Entstehung des Jugendstils, andererseits in der Gartenstadtbewegung ausdrückte.
Dieser äußeren stilistischen Mannigfaltigkeit ungeachtet entwickelte sich im Inneren der Villen eine gleichartige funktionale Aufteilung der Etagen: im Keller befanden sich die Wirtschaftsräume, im Erdgeschoss die Repräsentations- und im ersten Stockwerk die Privaträume. Für die Dienerschaft, deren Räume sich normalerweise unter dem Dach befanden, gab es zumeist einen zweiten Eingang und ein zweites Treppenhaus, so dass sie zur Verrichtung ihrer Arbeit nicht das repräsentative Treppenhaus bzw. den Haupteingang benutzen mussten – ein Umstand, den Fontanes Jenny Treibel ja bereits eingangs an ihrer Villa beklagte.
Der Erste Weltkrieg beendet das große Zeitalter des Villenbaus in Deutschland. Der Krieg und seine Folgen nahmen Teilen der Trägerschicht ihr Vermögen und Einkommen. Zahlreiche Villen wurden in Etagenwohnungen aufgeteilt. Im Inneren verändert, blieben sie jedoch nach außen Monumente einer vergangenen Zeit, in denen sich der wirtschaftliche Erfolg eines Teils der Bevölkerung im Kaiserreich ausdrückte. Ein Erfolg, der auch in Mülheims Stadtbild sichtbar war und es in Teilen bis heute ist.
Bei allen Problemen, die der Wandel des Begriffs Villa für eine genaue zahlenmäßige Bestimmung bedeutet, sind im Katalog Mülheimer Villen immerhin 80 freistehende Einzelhäuser aufgeführt. Die Gesamtzahl dürfte also einerseits darüber gelegen haben, andererseits ist es aber auch ohne direkte Zeugnisse schwer zu bestimmen, ob die Erbauer ihre Häuser selbst als Villen ansahen, wir diese aber heute nicht mehr so bezeichnen würden. Geht man aber von den über verschiedenste Zeugnisse erschließbaren und katalogisierten 80 Villen aus, so ist außerdem zu berücksichtigen, dass eine ganze Anzahl davon im Krieg zerstört wurde oder stadtplanerischen Umgestaltungen und Straßenausbauten weichen musste. Was heute verbleibt, ist also nur ein, wenn auch beachtlicher, Ausschnitt. Der größte Teil der 80 Villen entstand nach 1890, einer Phase, in der Mülheim zwar nicht mehr so schnell wuchs, aber der Wohlstand des Großbürgertums offensichtlich zunehmend seinen Ausdruck in neuen Wohnhäusern fand. Waren vor 1890 etwa 20 Villen entstanden, so wurden in der folgenden Dekade 17 weitere gebaut, und das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erlebte den Bau von ca. 30 Villen. Etwa 20 folgten dann noch in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg oder wurden während des Krieges fertig gestellt. Der Anteil der Villen an der Gesamthäuserzahl Mülheims um die Jahrhundertwende lag bei etwas über einem Prozent.
Freilich wurde dieser gering erscheinende prozentuale Wert dadurch kompensiert, dass es zum Teil zu räumlichen Konzentrationen der Villen kam, die zwar in Mülheim keine reinen Villenviertel entstehen ließen, aber immerhin spätestens zum Jahrhundertende Straßen und Straßenteile dominierten. Einige wenige Beispiele der Verknüpfung von Villa und Betrieb lassen sich bei den frühen Villen am Dickswall, der Neustadtstraße und an der Aktienstraße nachweisen, wobei die Villen an den letzten beiden Straßen heute nicht mehr existieren. Dichtere Ansammlungen von Villen fanden sich vor allem am Froschenteich, der heutigen Friedrich-Ebert-Straße, die allerdings in den 1950er Jahren der Verbreiterung der Ruhrstraße weichen mussten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dann verstärkt zum Jahrhundertende gab es größere Konzentrationen durch die Zunahme der Gesamtzahl der Villen. Neben dem Froschenteich gehörten hierzu im Innenstadtbereich besonders die Delle, die Louisenstraße und die Eppinghofer Straße. Jedoch sind auch hier die Villen weitgehend zerstört oder abgerissen worden. Einzig die Friedrichstraße, im Volksmund auch „Straße der Millionäre“ genannt, ist in ihrem oberen Teil fast vollständig erhalten. Zu weiteren Villenkonzentrationen kam es neben der Innenstadt noch im Broich-Speldorfer Wald, auf der Prinzenhöhe und auf dem Kahlenberg. Pläne, auf dem Kahlenberg eine einheitliche Villenkolonie zu bauen, wurden allerdings nicht umgesetzt. Daneben entstanden aber auch weiterhin einzeln gelegene, sehr exklusive Villen, wie die Villa Thyssen an der Dohne und das Haus Urge auf dem Kahlenberg. Diese Konzentration bzw. Exklusivität erklärt auch, warum selbst Mülheimer Zeitgenossen den Villenbau so hervorhoben. In der „Denkschrift zur Hundertjahrfeier der Stadt Mülheim an der Ruhr – 1908“ bemerkte Rektor Klewer zur Baukunst:
„Viele der alten Häuser sind in den letzten 20 Jahren niedergelegt und durch moderne Bauten ersetzt worden. (…) Aber nicht bloß im Innern der Stadt ist viel gebaut worden, es sind auch neue Stadtviertel entstanden mit villenartigen Häusern und kleinen Vorgärtchen. Die Architekten haben sich bemüht, nicht nur bequeme und allen Anforderungen der Gegenwart entsprechende, sondern auch schöne Häuser zu bauen.“
Mülheim also nur eine Stadt der Villen und villenartigen Vororte? Man muss den Bau der Villen zu guter Letzt in den Gesamtkontext der Bauaktivitäten im Mülheim der Jahrhundertwende einordnen. Klewer ging es um eine Beschreibung der Baukunst – die Villen stellten offensichtlich Kunst für ihn dar, sie waren „schön“. Aber das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts waren eben nicht nur die Zeit des Villenbaus, sondern auch die Zeit des Übergangs des Deutschen Reiches vom Agrar- zum Industriestaat. 1904/05 arbeiteten zum ersten Mal mehr Menschen in der Industrie als in der Landwirtschaft. Dies hatte mehrere Auswirkungen: Erstens mussten mehr Menschen in Städten nahe den Fabriken leben, was zur Folge hatte, dass die absolute Zahl der Arbeiterwohnungen wesentlich schneller wuchs als jene der Villen. In Mülheim wuchs die Zahl der Wohnhäuser zwischen 1878 und 1903 um 1138 auf 3756, nahm also in 25 Jahren um knapp ein Drittel zu. Zweitens wurden die großen Vermögen nicht mehr in der großgrundbesitzenden Landwirtschaft verdient, sondern in der Industrie. Und erst diese Vermögen ermöglichten den Bau der repräsentativen, aber eben auch kostspieligen Villen. Drittens war die Errichtung teurer Repräsentationsgebäude nicht auf private Villen beschränkt. Sie fand beispielsweise auch ihren Ausdruck im 1906 errichteten Handelshof an der Friedrichstraße oder dem 1911 bis 1915 errichteten Rathaus. So sind Mülheimer Villen der Ausdruck des Repräsentationswunsches eines kleinen, aber aufstrebenden und reich gewordenen Teils der Bevölkerung in einer bautechnisch insgesamt dynamischen Phase der Stadtgeschichte. Bis heute verbleiben sie als stumme Zeugen dieses Repräsentationswunsches, auch wenn das Bürgertum, so wie es im Kaiserreich existierte, inzwischen untergegangen ist.
Die Friedrichstraße – „Straße der Millionäre“
Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Friedrichstraße entstand, reichte die Bebauung nur etwa bis zur Einmündung der Wilhelmstraße. Es gibt also einen älteren und einen neueren Abschnitt. Der obere, in seiner Bebauung heute noch sehr gut erhaltene Teil, entstand größtenteils erst nach 1890. Im unteren Teil der Friedrichstraße finden sich lediglich zwei erhaltene Villen. Diese beiden entstanden schon wesentlich früher, nämlich zwischen 1865 und 1875 (Nr. 52 und 40. Doch noch in einer anderen Hinsicht zerfällt die Straße in zwei Teile, denn der Titel „Straße der Millionäre“ bedarf einer gewissen Einschränkung. Wie man bei der Betrachtung des Straßenteils oberhalb der Einmündung der Wilhelmstraße feststellt, ist die Friedrichstraße auch nach den jeweiligen Straßenseiten zweigeteilt. Auf der rechten Seite, der Ruhr näher, liegen die Villen, auf der linken hingegen findet sich nur eine einzige Halbvilla (Nr. 77), der Rest ist hauptsächlich mit Reihenhäusern bebaut. Diese Reihenhäuser entstanden zumeist früher als die auf der anderen Straßenseite gelegenen Villen, welche vermutlich erst nach dem Verschwinden der Troostschen Weberei gebaut wurden, die zuvor den freien Blick auf die Ruhr versperrt hätte. Auch waren die Bewohner der Reihenhäuser weit weniger exklusiv, wie ein Blick in die Mülheimer Adressbücher zeigt. Zum Teil wohnten sie nur zur Miete und von Beruf waren sie Lehrer, Amtsgerichtsräte oder Kaufleute. Die Villenbesitzer waren hingegen Bankiers, Druckereibesitzer oder Lederfabrikanten, wobei letztere möglicherweise eine Mülheimer Besonderheit darstellten, da Mülheim schon lange mit der Lederindustrie verbunden war. Kann man also die Friedrichstraße nach Bebauungszeit und Reichtum der Bewohner in mehrere Teile unterscheiden, so waren es wohl die großbürgerlichen Bewohner der Ruhrseite an die die Mülheimer dachten, wenn sie von der „Straße der Millionäre“ sprachen.
Betrachtet man allerdings die obere Friedrichstraße als Gesamtensemble und zieht die Reihenhäuser für einen Augenblick mit in die Betrachtung ein, so wird die stilistische Vielfalt der wilhelminischen Epoche trotz einiger Umbauten auf einer Strecke von etwa 400 Metern in voller Ausprägung sichtbar. Stilelemente des Neobarock finden sich an den Häusern Nr. 85, 83, 81, 71, 69, 67, 56 und 52a. Hinzu kommt die Halbvilla Wilhelmstraße 22, die mit dem Haus Friedrichstraße 52a verbunden ist. An diesen beiden entdeckt man allerdings auch Jugendstilelemente, die ebenso am Haus Nr. 89 und dann vor allem an den Villen Nr. 60 und 58 zu finden sind. Elemente der Neorenaissance spiegeln sich an den Häusern Nr. 73, 65 und 54 wider. Dem Spätklassizismus verpflichtet sind hingegen die Halbvilla Nr. 77 und die Villen an der unteren Friedrichstraße (Nr. 52 und 40). Zuletzt lassen sich auch Neogotik (Nr. 75) und altdeutscher Stil (Nr. 32) noch auf der Friedrichstraße entdecken. Diese Vielfalt ist angesichts der relativ kurzen Entstehungsphase der meisten Gebäude in einer Phase von nur 25 Jahren beeindruckend.
Betrachtet man die Stilvielfalt der Villen bzw. Halbvillen der Ruhrseite, fällt zuerst an den Villen Nr. 40 und 52 im Vergleich vor allem ihre Zurückhaltung im Schmuck auf. Sie sind die ältesten Villen an der Friedrichstraße. Haus Nr. 40 wurde zwischen 1873 und 1875 vom Lederfabrikanten Eugen Coupienne erbaut, Nr. 52 gehörte Friedrich Bungert, der ebenfalls Lederfabrikant war, und entstand zwischen 1867 und 1872. Noch dem Klassizismus verhaftet, besitzen sie einen rechteckigen Grundriss. Die Hauseingänge liegen an den Seiten und sind, abgesehen von den zu ihnen führenden Freitreppen, wenig hervorgehoben. Die Scheinquaderung dagegen ist als Schmuckelement wesentlich auffälliger. Sie betont in beiden Fällen das Erdgeschoss und bei Nr. 40 zusätzlich die Hausecken und den Sockel. Oberhalb des profilierten Geschossgurtes sind die Fassaden hingegen glatt verputzt. Hochrechteckfenster am Haus Nr. 40 und in Tudorbögen endende Fenster am Haus Nr. 52 werden im ersten Stock jeweils von Segmentbogenverdachungen abgeschlossen, während sie im Erdgeschoss ihre rechteckige Form beibehalten und konsolgestützte Fensterbänke besitzen. Am Haus Nr. 52 schließen die Erdgeschossfenster mit verzierten Konsolen ab. Im Stil und in ihrer geringeren Größe heben sich diese Villen von jenen der oberen Friedrichstraße deutlich ab.
Dort begegnet man zuerst dem zwischen 1904 und 1906 erbauten Doppelhaus Wilhelmstraße 22 und Friedrichstraße 52a. Ersteres gehörte Carl Roesch, einem Webereibesitzer und Immobilienhändler, letzteres dem Notar Rudolf Schmits. An ihnen werden die Rezeption historischer Stilformen einerseits und der aufkommende Jugendstil andererseits offensichtlich. Kernstück des Hauses Nr. 22 ist der dreigeschossige Turm und das sich über dem vorspringenden Eingangsbereich erhebende Fenster mit seinen beiden Flügeln und der reichen Verzierung bis hinauf in den Giebel. Eingefasst wird der Eingang durch applizierte ionische Säulen, Pilaster genannt, die über beide Stockwerke verlaufen und an der Fassadenseite zur Friedrichstraße hin wiederholt werden. Zusätzlich werden die verschiedenen Achsen der Fassade durch Scheinquaderung gegliedert. Diese stilistischen Merkmale setzen sich weitgehend an der anderen Haushälfte fort. Der zweiachsige übergiebelte Risalit ähnelt in Fenstern, Säulenapplikationen und Verzierungen dem Nebenhaus. Die nachträglich im Kellergeschoss eingebauten Garagen erschweren jedoch ebenso wie der Bewuchs der Fassade die Wahrnehmung dieses Gebäudeteils.
Die Jugendstilelemente dieser Halbvillen sind dann im Nebenhaus, Nr. 54, wesentlich besser sichtbar. In einer geschickten Mischung aus italienischer Renaissance und Jugendstil hat die Bankiersfamilie Hanau hier eine der herausragenden Villen der Friedrichstraße vom Mülheimer Architekten Franz Hagen bauen lassen. Ihre Front wird dominiert durch den Mittelrisalit, der in einem mit pflanzlichen Jugendstilmotiven gefüllten Giebelfeld endet. Der Risalit öffnet sich unterhalb dieses Giebels in einem Korbbogen. Während der untere Balkon aus dem Risalit herausragt, liegt die Fensterfront zurückversetzt. Der obere Balkon wird durch Säulen getragen, die sich seitlich und als Stützen der Rundbogenfenster im ersten Stock wiederfinden. Oberhalb der Rundbogenfenster sind noch weitere vegetabile Schmuckelemente sichtbar. Gesimse und Dreiecksgiebel an den Seitenachsen tragen zur Auflockerung der Putzfassade der insgesamt monumental wirkenden Villa bei.
Dagegen sind die Villa Nr. 56 und die beiden Halbvillen Nr. 58 und 60 wieder weit bescheidener in ihrem Auftreten. Sie erwirken hauptsächlich durch das Zusammenspiel von Erkern, Giebeln, Fensterformen und deren Einfassung Aufmerksamkeit, bevor als letzte Villa der Friedrichstraße noch einmal ein monumentaler Bau des Architekten Franz Hagen für den Buchdruckereibesitzer Julius Bagel folgt (Nr. 62). Mit dieser Villa, zwischen 1910 und 1912 gebaut, wird wieder eine strengere Monumentalität mit Merkmalen des sich entwickelnden Neoklassizimus und des Jugendstils sichtbar. Die Straßenfassade wird durch vier kolossale ionische Pilaster gegliedert. Im mittleren Teil findet sich ein halbrunder Erker, der ebenfalls Säulen als Schmuckelemente aufweist. Die Mittelachse wird durch zahlreiche vegetabile Reliefs zwischen den Fenstergruppen der oberen Stockwerke geschmückt. Zusätzliche nischenartige Vertiefungen finden sich oberhalb der beiden Mittelpilaster. Die Mittelachse endet in einem großen Dreiecksgiebel. Das Portal befindet sich auf der rechten Seitenachse, zu erreichen über eine Freitreppe unterhalb des Portikus genannten Vorbaus.
Die Vielfalt und die Mischformen, die der Historismus ermöglichte und die sich an der oberen Friedrichstraße widerspiegeln, fanden ihre Fortsetzung in der Innenausstattung der Villen, die je nach finanziellen Möglichkeiten ihrer Besitzer und dem persönlichen Geschmack ausfiel. Diese hat allerdings teilweise Änderungen unter den sich wandelnden Nutzungsnotwendigkeiten und Modernisierungsbedürfnissen der Bewohner erfahren. Ursprünglich als Einfamilienhäuser errichtet, werden die Villen heute sehr unterschiedlich genutzt. Versucht man generelle Tendenzen der weiteren Nutzung der Villen zu bestimmen, so stellt man fest, dass sie im Laufe der Jahrzehnte, zumeist in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in mehrere Wohnungseinheiten oder Eigentumswohnungen unterteilt wurden. Hinzu kamen gewerbliche Nutzungen. Im Haus Nr. 62 fand in den 1960er Jahren beispielsweise eine Bank ihre Unterkunft, und die Halbvilla an der Wilhelmstraße 22 wurde in den 1970er Jahren durch die Tanzschule Wrona genutzt. Haben sich die Villen also im Inneren zumeist gewandelt, so bleiben sie von außen doch Monumente des Mülheimer Großbürgertums des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.
Haus Urge – Bismarckstraße
Entstanden 1913, begegnet man im Haus Urge einem hervorragenden Beispiel für die Möglichkeiten, die die Architekten des beginnenden 20. Jahrhunderts ihren Kunden bieten konnten. Die Ehefrau des Erbauers und Lederfabrikanten Jean Baptiste Coupienne, Martha, geb. Schmidt-Leverkus, wünschte sich einen Bau, der im Äußeren ihrem Elternhaus, dem Haus Blegge in Paffenrath in der Nähe von Bergisch Gladbach, entsprach. Dieses Wasserschloss war im 18. Jahrhundert im Stil des Barock erbaut worden, und so überführte der Architekt der Coupiennes, der bereits genannte Franz Hagen, den barocken Schlossstil in eine zeitgenössische Villa, die in vielen Details dem Paffenrather Vorbild entspricht, was vor allem für die relative äußere Schlichtheit zutrifft. Sie steht damit im krassen Gegensatz zu den Häusern der Friedrichstraße und der Villa Thyssen an der Dohne. Woher der Name „Urge“ kommt, ist im Gegensatz zum Vorbild beim Bau jedoch ungeklärt. Im Volksmund ist es gelegentlich als Abkürzung mit „unser Reichtum gestattet es“ aufgelöst worden, was man als Zeichen der Bewunderung, aber auch des Neides werten kann. Dessen ungeachtet charakterisiert es die Villa jedoch hervorragend.
Die Lage kann als eine der exklusivsten im Mülheim des Jahres 1913 angesehen werden. Auf dem Kahlenberg, etwa 45 Meter oberhalb der Ruhr gelegen, hatte man einen weiten Ausblick über das Ruhrtal, die südliche Ruhrseite und die Mülheimer Innenstadt, von der man jedoch durch die Positionierung des Gebäudes auch vornehm abgeschottet war. Denn die Sichtachsen der Repräsentationsräume sind auf die Ruhr und nicht auf die Mülheimer Innenstadt ausgerichtet. Bewohnern und Besuchern bot sich ein Ausblick, der heute, da die Bäume im Park hoch gewachsenen sind, nur noch zu erahnen ist, wenn man den nahegelegenen Bismarckturm besteigt. Das Grundstück an sich maß 28.000 m² und war in mehrere Bereiche untergliedert. Die Villa bildet das Zentrum der Bebauung, von der Straße aus ein Stück zurückversetzt, hinter einer Mauer. Hinter dem Haus liegt der zur Repräsentation gedachte Garten, unter anderem mit einem Zierbecken als Blickfang. Während das Grundstück auf der abfallenden Seite des Hanges an den Bismarckturm grenzt – hier befand sich auch die hauseigene Gärtnerei – endete es oberhalb mit dem Boten- und Gärtnerhaus. Damit diese Gebäude und die für Gartenarbeiten notwendigen Wirtschaftswege nicht den Ausblick störten, wurden sie durch Mauern vom repräsentativen Teil des Gartens abgeschirmt. Diese genau konzeptionierte Anlage war darauf ausgerichtet, das Haus für den Besucher in den Mittelpunkt zu rücken, von außen sollte es der Blickfang sein.
Die Villa hat einen fast quadratischen Grundriss, über dem sich ein weitgehend symmetrischer, kompakt und etwas gedrungen wirkender Baukörper aus Sandstein erhebt. Dieser ist zweigeschossig, mit Ausnahme der dreigeschossigen Türme auf der Rückseite, die mit „welschen“ Hauben gedeckt sind. Diese beiden Türme sind die wohl auffälligste Parallele zum Vorbild in Paffenrath. Die Seiten des Gebäudes sind nur moderat verziert: ein Gurtgesims auf Geschoßhöhe, ein Fries im Dachgesims, Einfassung der Fenster im Erdgeschoss und Profilierung im Obergeschoss – alles Fortsetzungen des Schmucks der Hausfront. Auf der dem Hang zugewandten Seite findet sich zusätzlich ein Nebeneingang für das Hauspersonal, so dass dieses nicht durch das Frontportal gehen und, wie Fontanes Jenny Treibel an ihrem Haus beklagte, mit den Besuchern verwechselt werden konnte. Die Seitenfassaden waren aber auch keine zentralen Betrachtungsrichtungen. Wer zum Haus wollte, fuhr durch das Tor hindurch direkt auf die Frontfassade zu, beim obligatorischen Spaziergang im Park während einer Gesellschaft erlangte hauptsächlich die Rückseite Bedeutung. Dies berücksichtigend sind hier auch die baulichen Akzente, obwohl immer noch vergleichsweise gering in ihrer Anzahl, wesentlich hervorstechender und geben dem Ganzen seinen monumentalen Charakter. An der Vorderseite bewirkt dies vornehmlich das Eingangsportal, das in die mittlere der fünf Achsen eingefügt ist. Es besteht im Erdgeschoss aus einem Vorbau, der von ionischen Säulen getragen wird. Im ersten Stock übernimmt der Vorbau die Funktion eines Balkons, welcher von einem zentralen Rundbogenfenster überragt wird. Die Rückseite wird einerseits durch die beiden leicht vorstehenden Türme dominiert, die im Gegensatz zum Paffenrather Vorbild über ein gedrungenes zusätzliches Stockwerk verfügen und enger beieinanderstehen, andererseits setzt der über die Außenkante der Türme hinausgezogene Wintergarten einen optischen Akzent. Der Wintergarten geht im Erdgeschoss in die Terrasse über und sein Dach bildet im ersten Stockwerk analog zur Vorderseite einen Balkon. Im Gegensatz zu den Villen der Friedrichstraße dominiert von außen also eine gewisse Schlichtheit. Ob es sich hierbei allerdings um eine bewusste Abkehr vom Historismus handelt, wie es Barbara Maas konstatiert, oder lediglich um die möglichst weitgehende Kopie eines idealisierten Elternhauses der Erbauerin, wird nicht mehr zu klären sein.
Die Raumaufteilung im Inneren des 1.100 m² großen Gebäudes entsprach weitgehend jener anderer Villen. Im Erdgeschoss fanden sich in Anlehnung an Rokoko und Barock gehaltene, zur Repräsentation gedachte Räume. Etwas ungewöhnlich ist, dass hier auch die Küchen untergebracht waren. Die Eingangshalle war komplett mit Holz verkleidet bzw. mit Leder bespannt. Das erste Stockwerk beherbergte die privaten Räume der Besitzer und das Dachgeschoss die Wirtschaftsräume und Unterkünfte für die Hausangestellten. Auch im Inneren orientierte sich Haus Urge am Elternhaus seiner Besitzerin. Jedoch sollten Martha Coupienne und ihr Ehemann Jean Baptiste nicht lange dort wohnen. Bereits 1923, also zehn Jahre nach Vollendung des Baus, verkauften sie Haus Urge an Gustav Stinnes. Nach dessen Tod ein Jahr später wurde es an die Hugo Stinnes GmbH weiterverkauft. Hugo Stinnes Jr. sollte mit einer Unterbrechung zwischen 1945 und 1958, als Haus Urge zum Kasino des britischen Militärs in Mülheim umgewandelt wurde, bis 1973 in der Villa wohnen. Der neue Käufer war das Max-Planck-Institut für Kohlenforschung, das die Villa bis in das neue Jahrtausend hinein als Gästehaus nutzte. Heute ist sie an die ZENIT GmbH vermietet. Diese Nutzungswechsel und der Zweite Weltkrieg führten im Inneren zu zahlreichen Umbauten. So wurde im Zweiten Weltkrieg im Kellergeschoss ein Bunker angelegt, der den Bewohnern und Nachbarn als Schutz gegen Luftangriffe diente. In den fünfziger Jahren verschwanden Teile der aufwändigen Innenverkleidung und Fußböden oder wurden ersetzt. Zuletzt hat der Einzug der ZENIT GmbH Änderungen im Hinblick auf moderne bürotechnische Notwendigkeiten mit sich gebracht.
Villa Thyssen – Dohne 54
Mit der Villa Thyssen begegnet man einer der bedeutendsten Mülheimer Industriellenfamilien. August Thyssen, Bruder des Erbauers der Villa, Josef Thyssen, war seit 1871 in Mülheim ansässig und hatte die Firma Thyssen & Co. gegründet – in sie sollte Josef wenig später als Mitinhaber eintreten. Auf das industrielle Engagement folgte die eheliche Verbindung mit Töchtern aus Mülheimer Unternehmerfamilien. August hatte bereits 1872 mit Hedwig Pelzer, Tochter eines Gerbereibesitzers, in die Mülheimer Oberschicht eingeheiratet, und sein Bruder Josef, der 1880 heiratete, hatte seine Ehefrau Klara Bagel – ihr Vater war Buchhändler und Druckereibesitzer – ebenfalls im Mülheimer Großbürgertum gefunden. Die Mitgift wurde jeweils in die Expansion der Firma investiert und auch das Erbe des Vaters der Gebrüder Thyssen wurde zu diesem Zweck genutzt. Der Ausbau des Betriebes stand im Vordergrund, und so lebten die Brüder noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts in relativ einfachen Häusern; Josef mit seiner Familie zuerst an der Eppinghofer Straße, später an der Bahnstraße. Erst um die Jahrhundertwende, als offensichtlich die wirtschaftliche Situation des Betriebes den Brüdern die Verwendung von größeren Geldern für repräsentative Wohnbauten ermöglichte bzw. das unternehmerische Prestige und die gesellschaftliche Position solche Bauten auch notwendig machten, veränderten die Brüder ihre privaten Wohnbedingungen. Während August Thyssen 1905 Schloss Landsberg erwarb und damit die Mülheimer Stadtgrenzen verließ, baute sein Bruder eine Villa auf dem Gelände der ehemaligen Textilfabrik Troost.
Bei diesem Grundstück kann man wohl, wie auch beim Haus Urge, von einer hervorragenden Wohnlage sprechen, was vor allem dann sichtbar wird, wenn man sich dem Haus von der Rückseite her nähert. Die Troostsche Fabrik, die seit dem 18. Jahrhundert das Gelände zwischen Dohne und Ruhr okkupiert hatte, war bereits 1875 in Konkurs gegangen. 1896 erwarb die Firma Thyssen & Co. einen Teil dieses „Luisental“ genannten Geländes für 425.000 Mark von Heinrich Pelzer, dem Schwiegervater August Thyssens. Der Teil des Grundstücks, auf dem die Villa errichtet wurde, verläuft von der Straße aus zur Ruhr hin abfallend, und während der Grundstücksanteil vor dem Haus relativ gering ist, erstreckt sich auf dem flacher werdenden Teil des Geländes hinter dem Haus ein großzügiger Park, in den der ehemalige Fabrikteich der Firma Troost als Landschaft gestaltendes Objekt mit einbezogen wurde. Der Baumbestand erschwert in seiner Höhe die Einschätzung der ursprünglichen Sichtachsen des Parks. Dennoch kann man bei einem Spaziergang um den Teich auch heute noch den Effekt erleben, den die Lage der Villa am Hang auf Besucher der mindestens zweimal im Jahr stattfindenden Gesellschaften der Thyssens hatte. Beinahe schlossartig erhebt sich die neobarocke Villa oberhalb des Teiches.
Im Gegensatz zum Haus Urge, das wichtige architektonische Gestaltungsmerkmale nur an der Vorder- und Rückseite des Hauses aufweist, ist die zwischen 1898 und 1900 gebaute, von den renommierten Berliner Architekten Kayser & von Großheim geplante Villa Thyssen an allen Seiten und in wesentlich höherem Maße gestaltet. Diese an allen Seiten unterschiedliche Gestaltung wird dem Besucher bereits bewusst, wenn er sich dem Gebäude nähert. Die Villa besitzt eine eigene Auffahrt, die zwar wegen der Lage des Hauses nahe der Straße recht kurz ausfällt, dennoch aber den Blick auf Seite und Front des Hauses freigibt. Wer den Wegen im Park folgt, erblickt ebenfalls die Seitenfassaden. Es gibt einige wiederkehrende Elemente der Gestaltung, die sich auf allen Seiten finden lassen. Dies ist vor allem die um das Zeltdach herumlaufende Balustrade, welche an den vier Hausseiten jeweils in der mittleren Achse durch einen geschweiften Giebel unterbrochen wird. In diesem Giebel befindet sich jeweils ein „Ochsenauge“ genanntes Fenster, das von Pflanzenmotiven umrahmt wird. Säulen und Pilaster, unterbrochene Scheinquaderungen, Risalite, Balkone, ein großes Rundbogenfenster und ein Wintergarten gliedern die äußere Erscheinung des Hauses.
Die Innenausstattung spiegelte den bereits nach außen gezeigten Reichtum wider. Marmor, Stuckdecke und Wandvertäfelung in der Eingangshalle sowie rötliche Marmorsäulen mit Stuckkapitellen schaffen ein monumentales Empfangsambiente, das sich in der repräsentativen Treppe und den an die Eingangshalle anschließenden Räumen, dem Musik- und Herrenzimmer, dem „Goldenen Salon“, dem Arbeitszimmer und Esszimmer fortsetzte. Das erste Stockwerk enthielt wie üblich die Privaträume, wobei ein separater Teil für die zwei Schlafzimmer der Eheleute und deren Badezimmer existierte. Die Zimmer der Dienerschaft, Trocken- und Waschräume befanden sich im Dachgeschoss und waren über das Dienstbotentreppenhaus erreichbar. Dies führte von dort bis in den Keller, wo die weiteren Hauswirtschaftsräume lagen und sich der Lieferanteneingang befand. Da die Villa noch bis in die 1980er Jahre von Mitgliedern der Familie Thyssen bewohnt wurde, sind auch im Inneren viele Details dieser ursprünglichen Ausstattung erhalten geblieben. Die Nutzung des Gebäudes durch die ZENIT Beratungsgesellschaft und aktuell als repräsentatives Bürogebäude, u.a. für Thyssengesellschaften, haben lediglich kleinere Änderungen erforderlich gemacht.
Die Wahrnehmung der Villen durch die Öffentlichkeit
Die skizzierte Geschichte der Nutzung der Villen offenbart den Wandel der deutschen Gesellschaft in den letzten knapp einhundert Jahren und die Krisen, durch die sie gegangen ist. Spätestens in den 1980er Jahren war die Zeit der Nutzung der wilhelminischen Villen durch ihre Erbauer oder Käufer als Einzelfamilien vorbei – mehrere Wohnungseinheiten oder Büros finden sich heute in den meisten Gebäuden. Die Änderung der Nutzung erfolgte an der Friedrichstraße zumeist früher, die Familien Stinnes und Thyssen, deren Firmen es zu überregionaler und vor allem langanhaltender Bedeutung gebracht hatten, verließen die Villen später. Heute stehen die Häuser unter Denkmalschutz und werden von so manchem Beobachter bewundert.
Aber so wechselvoll die Geschichte der Besitzer und Bewohner der Villen war, so wechselvoll ist auch die Geschichte ihrer Wahrnehmung. So sprach die Mülheimer Zeitung 1928 von einer „Reihe würdiger alter Bauten“ an der Friedrichstraße. Allein, am „untersten Teil der Straße sind … in den letzten Jahrzehnten Bauten entstanden mit den Disharmonien jener Zeit, da die Mode vorherrschte, die man fälschlich immer Stil nennt, den sogenannten Jugendstil.“ Die Villen am oberen Ende der Friedrichstraße überging der Autor geflissentlich, sie waren für ihn offensichtlich nicht würdig und alt, andererseits aber auch zumindest nicht verdammungswürdig. In den 1960er Jahren entdeckte man dann zwar die Villen an sich, aber mit der Bezeichnung der Bagel-Villa an der Friedrichstraße 62 als „Feudalvilla“ (Westdeutsche Allgemeine Zeitung 1967) ging wohl kaum eine positive Konnotation einher. Dass sie in der gleichen Ausgabe auch noch als „hochherrschaftliches Haus“ bezeichnet wurde, kann somit kaum als Ausdruck positiver Wahrnehmung angesehen werden. Der Baustil des Historismus allgemein war dem Diktum der „großen Ideenlosigkeit“ (Herbert Pothorn, 1968) verfallen. Diese Einstellungen kontrastieren mit der heutigen Wahrnehmung, wie sie die Westdeutsche Allgemeine Zeitung 1992 zum Ausdruck brachte. Anlässlich der Renovierung des Hauses Friedrichstraße 60 titelte sie: „Villa wird aufpoliert. Alte Schönheit soll erhalten bleiben.“ Der (vorläufige) Schlusspunkt der öffentlichen Wahrnehmung ist damit erreicht. Die Entstehung des vorliegenden Beitrages beweist das aktuell positive Interesse. Wie die Zukunft über Mülheims Villen urteilen wird, bleibt abzuwarten. Die im Titel aufgeworfene Frage muss jedes Zeitalter selbst beantworten.
(Aus: Zeugen der Stadtgeschichte: Baudenkmäler und historische Orte in Mülheim an der Ruhr, hrsg. vom Geschichtsverein Mülheim an der Ruhr e.V., Klartext Verlag, Essen 2008)