Leben aus der Quelle: 175 Jahre CVJM in Mülheim an der Ruhr

Evangelisches Vereinshaus Handelshof 1906, Quelle: Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr

Von: Thomas Emons

Er ist einer der ältesten Vereine der Stadt, der Christliche Verein Junger Menschen (CVJM). Diesen Namen trägt er allerdings erst seit 1985. Hervorgegangen ist der CVJM aus dem 1848 gegründeten Evangelischen Jünglingsverein, der sich ab 1907 Christlicher Verein Junger Männer nannte. Mitglied werden und Vereinsämter übernehmen konnten Frauen im CVJM erst ab 1972.  Seit 2020 stehen mit Jutta Tappe und Alina Gerdau zwei Frauen an der Spitze des Vereins, der sich selbst als ökumenisch und konfessionsunabhängig beschreibt.

Als sich der CVJM-Vorläufer Evangelischer Jünglingsverein gründete, lebten rund 26.000 Einwohnerinnen und Einwohner in Mülheim, von denen rund 19.000 evangelisch waren. Deutschland war noch kein demokratischer Sozialstaat. Es war ein Bund unabhängiger und monarchisch regierter Länder, in denen immer mehr Bürger keine Untertanen sein wollten und stattdessen im Sinne des Deutschlandliedes, das Hoffmann von Fallersleben 1841 gedichtet hatte, nach Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland verlangten.

Mülheim war damals als Stadt an der Ruhr ein Hot Spot der Industrialisierung und Urbanisierung. Viele Menschen kamen auf der Suche nach Arbeit in die Stadt. Die 1811 gegründete Friedrich-Wilhelms-Hütte und die 1791 gegründete Weberei Trost waren die größten Industrieunternehmen der Stadt, Hinzu kamen die Zechen Sellerbeck, Wiesche und Humboldt. Die Ruhr wurde um 1850 von jährlich mehr als 5000 Kohlenschiffen befahren. Die Stadt hatte 1842, ein Rathaus und eine Stadtsparkasse und 1844 mit der Kettenbrücke, die erste Ruhrquerung bekommen. Zu den jungen und alleinstehenden Männern, die damals als Arbeitskräfte in die Stadt kamen, waren viele wandernde Handwerksgesellen. Speziell ihnen wollte der Evangelische Jünglingsverein Pflege für Leib und Seele durch Gemeinschaft, Unterkunft, Logie, religiöse Orientierung. Bildung und eine sinnvolle Freizeitgestaltung anbieten. Deshalb initiierte der Evangelische Jünglingsverein mit Unterstützung der Pfarrer Schulz und Stursberg 1850 die Gründung des Evangelischen Krankenhauses und 1860 die Errichtung seines Vereinshauses an der Friedrichstraße. Hier fanden „reisende Handwerksburschen“ nicht nur eine Übernachtungsmöglichkeit, sondern auch einen Betsaal und eine christliche Buchhandlung. 

„So wie unsere Gründer junge Männer vor den Gefahren der Großstadt bewahren wollten, so wollen wir als Teil der Stadtgesellschaft etwas Gutes bewirken, in dem wir aus der Quelle der Frohen Botschaft leben und in diesem Geiste jungen Menschen den Freiraum geben, den sie wollen und brauchen, um ihr Lebensumfeld mitgestalten und sich auf ihrem Lebensweg mit ihrer Persönlichkeit weiterzuentwickeln und zu entfalten“, sagt der Religions- und Sozialpädagoge Michael Lingenberg. Er leitet als Nachfolger von Frank Held seit 2019 als Referent zusammen mit haupt- und ehrenamtlichen KollegInnen die offene Jugendarbeit des Mülheimer CVJM.

Zwischen 1904 und 1908 erlebte der Evangelische Jünglingsverein, der sich nun Christlicher Verein Junger Männer nannte, einen wichtigen Innovationsschub. Mithilfe des Mülheimer Architekten Franz Hagen, der auch Herausgeber der Mülheimer Zeitung war, baute der Verein sein Vereinshaus an der Friedrichstraße um und aus und gründete Stadtteilvereine. Durch die starke Zuwanderung arbeitssuchender Menschen war die Einwohnerzahl Mülheims inzwischen auf 100.000 angestiegen, wobei zwei Drittel der erwerbsfähigen Bevölkerung in der Industrie arbeitete. Mit Wilhelm Keienburg, dem 1925 Johannes Pieper folgen sollte, stellte der CVJM 1908 erstmals einen hauptamtlichen Mitarbeiter ein. Gleichzeitig nutzte jetzt auch der Mülheimer CVJM das 1890 von dem amerikanischen  CVJM-Sekretär Luther Halsey Gulick entworfene Logo. Das umgedreht rote Dreieck, in dessen Mitte der Vereinsname Weiß auf Schwarz steht, symbolisiert den Anspruch des CVJM den ganzen Menschen mit Leib, Seele und Geist in den Mittelpunkt der eigenen Arbeit zu stellen.

Doch die wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkrieges, dem erst eine Hyperinflation und dann nach einer kurzen Erholungsphase eine Weltwirtschaftskrise folgte, zwangen den CVJM sein Vereinshaus als Hotel umzuwidmen und 1930 an die Familie Hesse zu verkaufen, die das Hotel Handelshof bis zu seiner Schließung im Jahr 2022 führen sollte.

Wie man bei der Mülheimer Historikerin Dr. Barbara Kaufhold in ihrem 2006 im Klartext-Verlag erschienenem  Buch: „Glauben im Nationalsozialismus“ detailliert nachlesen kann, fand auch die CVJM-Arbeit während der NS-Zeit unter dem Vorzeichen der gesellschafts- und kirchenpolitischen Spaltung statt, bei der sich auch in der evangelischen Stadtkirche Mülheims regimetreue Deutsche Christen und die Mitglieder der regimekritischen Bekennenden Kirche gegenüberstanden. Auf der Grundlage von Zeitzeugenaussagen weist Kaufhold darauf hin, dass sich Pastor Ernst Barnstein als Mitglied der Bekennenden Kirche in der Evangelischen Altstadtgemeinde in einer Minderheitenposition befand, aber von den dort führenden CVJM-Vertretern Pieper, Nolte, Lierhaus, Keienburg und Schmiedke in seiner regimekritischen Haltung unterstützt wurde. 

Auch in den Erinnerungen des später segensreich wirkenden Saarner Pastor Ewald Luhr (1914-1997) kann man nachlesen, dass die persönlichkeitsprägende CVJM-Arbeit, die von Mitgliedern der Bekennenden Kirche geleistet wurde,  für viele junge Menschen in der NS-Zeit eine wichtige moralische Aufrüstung und eine geistige Immunisierung gegen die menschenverachtende Ideologie der NSDAP war. Diese moralische Aufrüstung begleitete etliche CVJMler, etwa in Form von Briefkontakten und Treffen während ihres Heimaturlaubs,  auch während ihres Kriegsdienstes als Soldat der deutschen Wehrmacht. 

Der CVJM setzte seine Arbeit in Vereinshäusern an der Wertgasse und an der Kampstraße fort, ehe er 1962 auf dem Grundstück des 1957 abgerissenen Kortum-Hauses ein neues und größeres Haus zwischen Kettwiger Straße und Teinerstraße  errichten und eröffnen konnte. Mit seinem neuen Haus rief der CVJM auch seine Heiligabendfeier für alleinstehende Menschen ins Leben. 

Das CVJM-Haus in der Altstadt ist heute einer von bundesweit 1600 Standorten, der für die offene und christlich inspirierte Kinder-, Jugend- und Erwachsenenarbeit genutzt wird. Neben Musik, Gesang, Gruppenarbeit,  Bibelarbeit, Hausaufgabenbetreuung und praktischer Lebenshilfe gehören seit 1946 Sommerferienfreizeiten für Jugendliche zum CVJM-Programm. Ging es anfangs an den Niederrhein, so wird man im Sommer 2023 zum Beispiel Kroatien bereisen und entdecken.

Der CVJM bietet in seinem Haus in der Altstadt ein Übergangswohnheim, um Menschen nach einer Lebenskrise, den Neustart in ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Vor der Einführung der Offenen Ganztagsschule bot der CVJM zwischenzeitlich (ab 2008) auch einen Mittagstisch für Schüler an. Mit Blick auf wohnungssuchende Studierende denkt man derzeit mit der 1921 gegründeten Diakonie darüber nach, das Übergangswohnheim in ein Studierendenwohnheim umzuwandeln und das Übergangswohnangebot den hauptamtlich tätigen und fachlich qualifizierten Mitarbeitenden der Diakonie zu überlassen. Die dafür erforderlichen Baumaßnahmen benötigen aber, wie der Bau des ersten Vereinshauses in den Jahren 1859 und 1860, großzügige Spenden aus der Mülheimer Bürgerschaft.

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