Von: Jens Roepstorff
An einem glühendheißen Wochenende wurden am 29./30. Juli 1911 die ersten Mülheimer Jugendfestspiele ausgetragen. Sie fanden – damals noch unter der Bezeichnung „Vaterländisches Turn- und Spielfest“ – auf dem Sportplatz am Kahlenberg statt und standen im Zeichen der Erinnerung an den berühmten „Turnvater“ Jahn, der 100 Jahre zuvor auf der Hasenheide in Berlin den ersten Turnplatz in den deutschen Landen eingerichtet hatte. Mit diesem Sportfest wurde in Mülheim gleichzeitig auch die von dem Ehepaar Leonhard/Stinnes über die Gretchen-Leonhard-Stiftung finanzierte Sportstätte eingeweiht.
Initiator und Organisator der Festspiele war Martin Gerste, Turnlehrer und seit 1910 Leiter des städtischen Turn- und Sportwesens. Unterstützt wurde er bei der Planung von einem Ausschuss, dem der städtische Beigeordnete Arthur Dietrich, der Direktor des Städtischen Gymnasiums Edmund Neuendorff und als Vorsitzender der Mülheimer Oberbürgermeister Paul Lembke angehörten. Gemäß dem Verständnis der damaligen Zeit sollten die Spiele dazu beitragen, „die Volksgesundheit zu heben, die Vaterlandsliebe zu vertiefen und einen sozialen Ausgleich herbeizuführen“.
Aufgrund der tropischen Hitze wurde die Eröffnungsveranstaltung auf den späten Samstagnachmittag verlegt. Die teilnehmenden Schulen und Sportvereine versammelten sich auf dem Rathausmarkt, wo der städtische Beigeordnete Arthur Dietrich vom Balkon des Rathauses eine feierliche Ansprache hielt. Nach dem gemeinsamen Singen des Deutschlandliedes marschierten die Teilnehmer angeführt vom Trommelkorps des Infanterieregiments und mehreren Vereinskapellen durch die Straßen der Altstadt zum Sportplatz am Kahlenberg. Unter dem Kommando des Festleiters Gerste traten dort an die 1.000 Schüler und Turner in Reih und Glied begleitet von strammer Marschmusik zu Massenfreiübungen an.
Am sportlichen Wettkampf der Schulen beteiligten sich rund 400 Schüler. Dabei stand der Dreikampf mit den Disziplinen 100-Meter-Lauf, Weitsprung und Schlagballweitwurf (80g) beziehungsweise Kugelstoßen (5kg) im Vordergrund. Das beste Ergebnis fuhr die Evangelische Schule an der Post aus Dümpten ein. Für die Erwachsenen – die männlichen Mitglieder der Turn- und Sportvereine – stand am frühen Sonntagmorgen der Fünfkampf an, wo sie sich im 100-Meter-Lauf, Weitsprung, Steinstoßen (15kg), Stabhochsprung und Schleuderballweitwurf (2 kg) beweisen mussten. Ein Wassersportfest mit Ruderwettkämpfen zwischen den Booten des Städtischen und des Staatlichen Gymnasiums ergänzte das Programm.
Der große Anklang dieser ersten Vaterländischen Spiele führte dazu, dass sie fortan zum festen Bestandteil der Sportveranstaltungen in Mülheim an der Ruhr wurden und sogar in den Kriegsjahren 1914 bis 1918 stattfanden. Dabei kam es immer wieder zu Neuerungen und Veränderungen. So wurden 1913 Schwimmwettkämpfe für die männliche Jugend in das Programm aufgenommen, die man zunächst in der Flußbadeanstalt der Saarner Aue austrug, ab 1925 dann im Schwimmbad des neugebauten Stadions. 1918 durften sich erstmals auch Mädchen in dieser Sportart miteinander messen. Durch die Aufnahme neuer Sportarten reichte 1920 das vorgesehene Wochenende nicht mehr aus, um alle Veranstaltungen ohne Zeitnot durchzuführen. Die Organisatoren beschlossen, die Spiele auf eine ganze Woche auszudehnen und nannten sie fortan „Mülheimer Turn- und Sportwoche“.
1925 wurden die Festspiele mit der Einweihung des neuen Stadions in Styrum verbunden und waren in vielen Disziplinen identisch mit den mittlerweile eingeführten Reichsjugendwettkämpfen. Nachdem vom 5. bis zum 11. Juli der Großteil der Wettbewerbe traditionsgemäß auf dem Sportplatz am Kahlenberg ausgetragen worden war, wurde am letzten Wettkampftag – einem Sonntag – in einem feierlichen Festakt das Ruhrstadion von Oberbürgermeister Paul Lembke eingeweiht. Neben Vorführungen der Mülheimer Sportvereine fand auf den südlich des Stadions neu gebauten Tennisplätzen ein sogenanntes „Werbespiel“ (Schaukampf) mit dem jungen Kurt Gies, dem späteren Mülheimer Tennis-Idol, statt. Im darauffolgenden Jahr, 1926, war der Tenniswettbewerb dann bereits fester Bestandteil des Programms.
1933 wurden die Jugendfestspiele vom nationalsozialistischen Regime übernommen und als Reichssportwettkampf der Hitler-Jugend fortgeführt. Der Stadtverband für Leibesübungen – die Dachorganisation der Mülheimer Sportvereine – wurde im Rahmen der Gleichschaltung aufgelöst und stand damit für die Organisation der Spiele nicht mehr zur Verfügung. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges ging die Beteiligung an den Sportwettkämpfen ohnehin stark zurück. Die älteren Jugendlichen wurden zum Wehrdienst eingezogen, die jüngeren kamen in die Kinderlandverschickung und es mangelte an ehrenamtlichen Helfern. Zudem machten die Bombenangriffe auf Mülheim unbeschwerte Spiele unmöglich.
Mit dem Zusammenbruch des NS-Regimes und dem demokratischen Neubeginn versammelten sich im November 1945 die Mülheimer Turner und Sportler, um den aufgelösten Stadtverband für Leibesübungen als Stadtsportbund neu zu gründen. Der frisch gewählte Vorsitzende Erich Stamm machte es sich zur Aufgabe, an die Tradition der Vaterländischen Festspiele anzuknüpfen und im Sommer des Jahres 1946 die ersten Nachkriegssspiele zu organisieren. Ein Jahr später – 1947 – waren dann auch die Sportabteilung des städtischen Jugendamtes sowie die Mülheimer Schulen an der Organisation und Durchführung beteiligt. Nachem man sich zunächst auf die seit 1920 übliche Bezeichnung „Mülheimer Turn- und Sportwoche“ verständigt hatte, bürgerte sich ab 1949 der Name „Mülheimer Jugendfestspiele“ ein.
Die Spiele des Jahres 1950 wurden erstmals wieder in städtischer Regie organisiert. Die Verantwortung lag bei dem Mülheimer Sportlehrer und städtischen Abteilungsleiter Georg Bernard als Nachfolger des 1937 in den Ruhestand getretenen Martin Gerste. Die alte Tradition des begleitenden Programmheftes wurde wiederbelebt und mit einem neuen Konzept versehen. Ein Schüler des Staatlichen Gymnasiums wurde mit dem Entwurf für das Titelblatt sowie für ein Veranstaltungsplakat beauftragt. In den Folgejahren wurde für Titelblatt und Plakat ein Wettbewerb an den Mülheimer Schulen ausgeschrieben, wobei ein jährlich wechselndes Motto als Richtschnur diente. Dies war die Geburtsstunde des jugendkünstlerischen Wettbewerbs, der nun gleichrangig neben die sportlichen Inhalte trat. Weitere künstlerische Elemente wie Theateraufführungen, Gesangsdarbietungen, Kabarett- und Quizveranstaltungen kamen hinzu.
Durch die Erweiterung der Sportveranstaltungen um ein musisches Rahmenprogramm erhielten die Jugendfestspiele einen neuen Charakter und wurden zum Vorbild für viele Städte und Gemeinden in ganz Deutschland. Eher künstlerisch begabte Jugendliche wurden genauso in das Programm eingebunden wie ihre sportlich ambitionierten Mitschüler. Durch diese breite Aufstellung erreichten die Veranstalter 1960 die Rekordmarke von 23.500 Teilnehmern.
Vergnügen und geselliges Beisammensein rückten immer stärker in den Vordergrund, der Sport trat dahinter zurück. In den 1970er Jahren führte man als Schlußveranstaltung ein Floßrennen auf der Ruhr ein und verknüpfte die Jugendfestspiele mit einem Altstadtfest. Das bunte Treiben auf dem Kirchenhügel beinhaltete musikalische Darbietungen, Theatervorführungen, Straßenkunst sowie einenTrödelmarkt.
Eine Neuorientierung erlebten die Spiele 1996, als die Organisatoren den Kirchenhügel verließen und unter dem Motto „Voll die Ruhr“ sämtliche Veranstaltungen an und auf die Ruhr verlegten. Aufhänger dafür war das seit den 1970er Jahren etablierte Floßrennen, aber auch das seit einigen Jahren an der Ruhr stattfindende RWW-Inselfest. Höhepunkt dieser überarbeiteten Spiele war das neu ins Programm aufgenommene Quietscheentenrennen. So wurde im Laufe von mehr als 100 Jahren diese Veranstaltung immer wieder verändert und dem jeweiligen Zeitgeist angepasst.