Autorin: Melanie Rimpel
Im 18. Jahrhundert wurde die Verlegung der Kirchhöfe als Bestattungsstätten vor die Ortschaften auch für die Stadt Mülheim zu einem zentralen Thema. Zwar gab es bereits seit dem Spätmittelalter immer wieder Kritik an der Bestattung der Toten direkt um die Kirchen, doch war der Widerstand vor allem durch den Glauben, dass die Toten so Anteil an den segensreichen Wirkungen der Reliquien und der gottesdienstlichen Handlungen hatten, groß. Obwohl der Kirchhof durch eine umfassende Mauer mit Kirchhofstor abgetrennt war, gab es immer wieder Bedenken wegen der hygienischen Verhältnisse. Bei den üblichen Bestattungen in gemeinschaftlichen Grabgruben-Einzelgräber nahe der Kirche oder der Kirchenmauer galten als Privileg-gab es oft genug Kritik an den Totengräbern, die Leichen nicht tief genug eingegraben zu haben. Die Forderung zur Auslagerung der Friedhöfe, weg von den Wohnstätten, erhielt vor allem ab dem 14. Jahrhundert durch die in Europa wütende Pest erhöhten Nachdruck. Doch trotz aller Kritik und Bemühungen gab es kaum Fortschritte. Eine erste Neuerung erfolgte Ende des 15. Jahrhunderts durch einen kaiserlichen Erlass und durch die Reformation, welche die Bedeutung der Nähe zu Reliquien aufhob. Zum ersten Mal wurde in dieser Zeit das Ideal eines Friedhofes als Stätte der Ruhe für die Toten und der Besinnung für die Lebenden. Als im 18. Jahrhundert erneut die Massengräber aus hygienischen Gründen in den Brennpunkt der Kritik gerieten, übernahmen die weltlichen Instanzen immer mehr ordnende Funktionen und führte zunächst das Einzelgrab als Reihengrab ein.
Großer Widerstand in den Gemeinden
In Mülheim folgten Bestrebungen zu einer Verlagerung des Friedhofes erst im Jahr 1782, als die Mülheimer Reformierte Gemeinde zur Schließung ihres Kirchhofes aufgefordert wurde, was diese jedoch entschieden ablehnte. Aufgrund der enormen Widerstände aus den verschiedenen Gemeinden sah sich Kurfürst Karl Theodor, Herzog von Berg, am 4. Mai 1784 gezwungen, eine weitere Verordnung zu erlassen:
„(…)wegen der aus den Totengräbern aufsteigenden Ausdünstungen, und daher auf das menschliche Leben und Gesundheit entstehenden schädlichen Folgen wurden alle Begräbnisse innerhalb der Städte gänzlich untersaget und die dort befindlichen Kirchenhöfe applaniert. Außerhalb der Städte werden auf freien entfernten Plätzen Kirchhöfe angelegt. Die Leichen sind mindestens sechs Fuß tief zu begraben. Die Beisetzung von Leichen in den Kirchen ist nur noch Standespersonen erlaubt, und zwar in wohlausgemauerten Gewölben, (…) welche nach eingesetzter Leiche sogleich zuzumauern,(…) der Name des Verstorbenen nebst dem Jahr und Tag der Begräbnis entweder auf eine Platte oder auf die Mauer notirt, (…) sodann dergl. Behältnüs vor 20. Jahren nicht geöfnet werden sollen; (…)”.
Fast 20 Jahre später, am 8. Juli 1803, sah sich Kurfürst Max Joseph (1799-1806) gezwungen, durch einen verschärften Erlass jede Bestattung innerhalb der Städte ungeachtet der Religion und des Standes zu verbieten, selbst die innerhalb der Kirchen und Totenkeller. Auch diese beiden Erlasse blieben in Mülheim an der Ruhr unbefolgt. Dies bedeutete nicht, dass andernorts ebenfalls jegliche Reformbestrebungen abgelehnt wurden. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war Österreich durch die von Joseph II. durchgesetzte josephinische Begräbnisreform von 1784 führend in der Reformbewegung.
Das napoleonische Dekret: “Décret sur les sépultures”
1804 folgte Napoleon dem Beispiel Österreichs mit einem eigenen Reformdekret. Das “Décret sur les sépultures” wurde für das gesamte französische Herrschaftsgebiet zur Richtschnur für das Begräbniswesen. Eine Entwicklung, die einige Jahre später auch Auswirkungen auf die Stadt Mülheim haben sollte, da Napoleon am 15. März 1806 seinen Schwager Joachim Murat zum Herzog von Berg ernannte. Am 17. Juli 1806 trat Kurfürst Max Joseph mit der Rheinbundakte das Herzogtum Jülich-Berg an Frankreich ab. Zu dem nun zum Großherzogtum erhobenen Herzogtum Berg gehörten auch die Herrschaften Broich und Styrum. In der napoleonischen Zeit wurde zunächst am 13. Februar 1808 die französische Behördenorganisation eingeführt und am 14. November 1808 durch die französische Departementseinteilung ergänzt. Ab dem Jahr 1810 erfolgte im Großherzugtum Berg die Angleichung an das französische Recht. Erst ab dieser Zeit machte sich der französische Einfluss bemerkbar. Dennoch dauerte es weitere Jahre bis zur Neuanlage des Friedhofes. Nach 70-jährigem Ringen um eine Veränderung wurde am 12. November 1812 der “neue“ Altstadtfriedhof an der Kettwiger Straße in Anwesenheit der Stadtoberen, des Kirchenvorstandes und der Gemeinde durch die drei reformierten Pfarrer Karl Johann Engels, Johann Heinrich Wolf und Johann Gerhard Engels sowie durch den lutherischen Prediger Georg Friedrich Wilhelm de Groote geweiht. Im Anschluss daran fand die erste Bestattung statt. Die Tochter des Webers Nöllenberg aus Eppinghofen wurde auf dem neuen „Totenacker“ beigesetzt. Von der Weihe des Friedhofes bis in das Jahr 1835 belegen die Unterschriften der Pfarrer auf den Erbbegräbnisscheinen die Verwaltung des Friedhofes durch die beiden evangelischen Kirchengemeinden. Danach zeugen die Unterschriften der Bürgermeister davon, dass die Verwaltung an die Stadt übergeben worden war. Der Friedhof war ab dieser Zeit Kommunalfriedhof.
Die Entwicklungsphasen
Die heute oft verwendete Bezeichnung „Alter Friedhof“ für die Grünfläche nördlich des Friedhofweges ist irreführend. So ist aus der Flurkarte der Bürgermeisterei und Gemeinde Mülheim an der Ruhr von 1823 ersichtlich, dass der Friedhof, hier fälschlich als „Kirchhof“ bezeichnet, auf Parzelle 104 lag. Diese Parzelle erstreckte sich auf zwei schmalen Streifen beiderseits des später zur Straße ausgebauten „Friedhofweges“.
Nach einem „epidemischen Katarrh“ in der ersten Jahreshälfte des Jahres 1835 erforderten die 45 bis 50 Toten in Mülheim eine erste Erweiterung. Diese erfolgte durch den Ankauf des Ostkampschen (Gemüse-) Gartens, der im Norden die Fläche von der Kettwiger Straße bis zur Hälfte des Friedhofsweges einnahm.
Die im Jahr 1837 folgende Vergrößerung schloss mit dem Ankauf von Gartenland des reformierten Pastorats im Süden an die ursprüngliche Parzelle an. Die Ankäufe in den 1840er Jahren vervollständigten die nördliche Erweiterung. So wurde 1843 das an Ostkamps Garten angrenzende Gartenland von Möhlenbruck und 1847 das Land der Gärten Mellinghoff und Bergfried, “die auf dem nördlich des Friedhofsweges gelegenen Teil, vom Hagdorn aus bis zur Hälfte des Friedhofweges reichen“ aufgekauft. Erst mit diesen Erweiterungen erreichte der nördlich des Friedhofweges gelegene Teil des Friedhofes die heute als „Alter Friedhof“ ausgewiesene Fläche.
Trotz Protests durch den Sanitätsrat Dr. Leonhard wurde der Friedhof nach 1865 weiter vergrößert. Eine Epidemie im Jahr 1866, bei der in kurzer Zeit in Mülheim 12 Personen an Pocken und 114 an Cholera starben, und der generelle Bevölkerungszuwachs Mülheims machten eine Erweiterung unabdingbar. So wurde der Friedhof ab 1866 nach Süden erweitert, zunächst entlang des Lohscheidts durch die Gärten von Möhlenbeck und van Felbett und dann bis 1877 vom Hang der Kettwiger Straße bis zum Lohscheidt durch die Gärten des reformierten Pastorats.
Trotz Errichtung der Vorortfriedhöfe im Jahre 1878 erfolgte zeitgleich eine weitere Vergrößerung des Friedhofes. Weitere Flächen zwischen Dimbeck, Tersteegenstraße, Kluse und Lohscheidt wurden hinzugekauft.1889 wurde das Torhaus an der Kettwiger Straße mit einer Wohnung für den Friedhofwärter und einem Trauerraum erbaut. Zur Jahrhundertwende wurde der Friedhofweg als Verbindungsstraße zwischen Schulstraße und Oberstraße ausgebaut, gleichzeitig wurde der Friedhof längs der Straße durch Mauern mit je einem eisernen Tor eingefasst.
Wahrscheinlich wurde mit dieser Maßnahme nachträglich die Anforderung des 1804 von Napoleon erlassenen „Décrets sur les sépultures“ übernommen. Im Zug dieser Maßnahmen wurde auch der ältere nördliche Teil für Reihengräber geschlossen. Bis zur vollständigen Schließung 1909 durften auf noch unbelegten Gräbern jedoch weiterhin Erbbegräbnisse stattfinden. Bis zum Bau der Trauerhalle im Jahr 1907 erreichte der Friedhof seine vollständige Größe. Mit der Eröffnung des Hauptfriedhofes am 15. April 1916 wurde auch der Teil südlich des Friedhofweges für Bestattungen in Reihengräbern geschlossen. Beerdigungen in Wahlgräbern waren bis zur vollständigen Schließung 1967 erlaubt. Erbbegräbnisse erfolgten mit Sondergenehmigung in den Jahren 1981 und 1991, seit September 1988 sind die Felder entlang der Kluse für Urnenbestattungen freigegeben.
Das Denkmal „Alter Friedhof“
Am 20. September 1984 wurde der Altstadtfriedhof unter Denkmalschutz gestellt. Zur Erhaltung des Friedhofes mit seiner historischen Struktur ist seitdem die Übernahme von Patenschaften für Grabstätten und eine damit verbundene Nutzungsberechtigung für Urnenbeisetzungen möglich. Die Besonderheit des Alten Friedhofs liegt vor allem darin, dass seine Grabstellen Zeugnisse der Mülheimer Geschichte von der Stadtgründung bis in die 1920er Jahre, ja bis in die heutige Zeit sind. Die Grabmale einfacher Bürger, der städtischen und kirchlichen Oberen sowie der Unternehmer und Industriellen der typischen Mülheimer Branchen sind Spiegel der Bevölkerung und des Lebens in Mülheim. Die Grabstätten der Industriellen belegen eindrucksvoll die Verbundenheit dieser zu ihren Lebzeiten über die Stadtgrenzen hinaus bedeutenden Unternehmerdynastien mit ihrer Stadt. Namen wie Stinnes, Thyssen und Schmitz-Scholl sowie die der Lederfabrikanten Coupienne und Lindgens belegen die Industriegeschichte der Stadt. Darüber hinaus gewinnt der Friedhof mehr und mehr Bedeutung als Dokument historischer Begräbniskultur. Mit geschätzten 6.000 einstigen Grabstellen ist er gleichzeitig Zeugnis kunsthistorischer Entwicklungen, bietet er mit den meist anspruchsvollen Grabmalen und deren Vielfalt doch einen deutlichen Überblick über den Gestaltungskanon historischer Grabmale. Der Denkmalcharakter des Friedhofes wird über die stadt-und industriegeschichtliche Bedeutung hinaus aber auch durch das Zusammenspiel seiner gestalterischen Elemente bestimmt.
Die gärtnerische Anlage des Friedhofes
Die gestalterische Grundstruktur bildet das Wegenetz in Verbindung mit der Anordnung der Grabparzellen und Grüfte. Die lineare Struktur wird durch die Anpflanzung der Linden-und Kastanienalleen längs der Wege verstärkt; diese bilden Sichtachsen und verleihen dem Friedhof seinen parkähnlichen Charakter. Die einstige Einfassung durch eine Mauer, wie auch die Baumpflanzungen gehen vermutlich auf Napoleons “Décret sur les sépultures” zurück, dessen 3. Artikel „eine 2 m hohe Mauer um den Friedhof und seine Bepflanzung mit Bäumen“ vorschrieb. Anhand dieses Artikels wird deutlich, dass sowohl die Mauer als auch die Bepflanzung des Friedhofes mit Bäumen wesentliche Merkmale der historischen Friedhofsgestaltung waren.
Die Grabstätten
In die übergeordnete Grundstruktur der Wege fügen sich die einzelnen Grabstellen mit ihrer individuellen Gestaltung. In Verbindung mit den Einfassungen der Gräber spiegeln die einzelnen Grabmale ebenso wie die Grüfte nicht nur die damalige Gräberkultur und die Kunst der Steinmetze wider, sie bieten vielmehr einen Einblick in das Selbstverständnis der Mülheimer Bürger. Seien es die kunstvollgestalteten Gräber und Grüfte der großen Industriellen, die Grabstellen der Mülheimer Bürgermeister oder auch die einfachen Grabsteine alter Schiffer-Familien: jedes Grabmal ist Ausdruck der gesellschaftlichen Stellung und des Selbstbildes.
Torhaus und Trauerhalle
Als bauliche Zeugnisse der Friedhofsentwicklung ergänzen das Torhaus und die Trauerhalle die Gesamtanlage des Altstadtfriedhofs. Das 1889 errichtete Backsteintorhaus an der Kettwiger Straße (heute Nr. 75) ist bis in die heutige Zeit in seiner ursprünglichen Form erhalten. Sein Mittelteil mit der Tordurchfahrt unter dem Spitzbogen ist risalitartig vorgezogen. Ein Wimperg mit Kreuzblume und ein darüberliegendes Gesims mit Kreuz dienen als gestalterische Elemente. Bekrönt wird die Durchfahrt von einem Stufenquergiebel vor einem steilen Zeltdach. Den linken eingeschossigen Gebäudeteil dominiert ein Zwillingsfenster mit Rundbogenblende, welches sich im Erdgeschoss des rechten zweigeschossigen Gebäudeteils wiederholt. Das Obergeschoss wird von je zwei Rundbogenfenstern im Mittelteil und im rechten Gebäudeteil, die jeweils axial angeordnet sind, gegliedert. Über den Rundbögen, Konsolen und den aufwendig gestalteten Dachgesimsen erheben sich zwei steile Walmdächer. Das Torgebäude ist in der Denkmalliste separat eingetragen. Bis zum Bau der Trauerhalle 1906/07 diente ein integrierter Trauerraum mit Vorraum als Versammlungsraum für die Trauergesellschaft. 1906/07 wurde offenbar am Standort eines vorherigen Gebäudes die noch heute erhaltene Trauerhalle errichtet. Unklar ist, ob dazu bauliche Bestandteile der Altsubstanz verwendet wurden. Die Trauerhalle diente auf kommunalen Friedhöfen ab Ende des 18. Jahrhunderts zur Abhaltung der kirchlichen wie der weltlichen Trauerfeier. Der Name „Aussegnungshalle“ greift zurück auf die Aussegnung, mit der die eigentliche Bestattung und der Weg zum Grab einsetzen. Für die Friedhofsplanung stellte sie eine neue, nicht unproblematische Bauaufgabe: sie sollte Trauerfeiern einen würdigen Rahmen bieten und dennoch allen Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen offenstehen
.„Alter Friedhof“
Auf der nördlich des Friedhofsweges gelegenen Grünfläche, die heute als “Alter Friedhof“ bezeichnet wird und deren umfassende Mauer nach dem Zweiten Weltkrieg beseitigt wurde, erinnern nur noch die wenigen erhaltenen Grabsteine der bedeutenden Mülheimer Familien Stinnes, Troost und Weuste an die ehemalige Nutzung. An der nördlichsten Grenze liegt seit 1968 das zentrale Denk-und Mahnmal des Bildhauers Gerhard Marcks für die Opfer beider Weltkriege.
Urnenbeisetzungen und Grabstätten-Patenschaften
Um eine sinnvolle Nutzung des unter Denkmalschutz stehenden Altstadtfriedhofes zu erreichen, hat der Rat der Stadt Mülheim an der Ruhr im Dezember 1987 die Wiedereröffnung für Urnenbeisetzungen beschlossen. Um diesem Angebot gerecht zu werden, wurden Felder für Urnenwahlgräber und Urnenreihengräber wie auch ein mit Rasen bewachsenes anonymes Urnenfeld angelegt.
Zudem hat jeder Bürger die Möglichkeit, Patenschaften für die historischen Grabstellen zu übernehmen. Der Pate verpflichtet sich, die Grabstätte einschließlich der denkmalwerten baulichen Anlagen instand zuhalten und, falls notwendig, zu restaurieren und erwirbt dadurch das Recht, auf der Grabstelle bis zu vier Urnen beizusetzen.
Erhaltungskonzeption
Zur Erhaltung des denkmalgeschützten Friedhofes als „grünes Buch der Stadtgeschichte“ erfolgte seit 2004 schrittweise eine komplette Instandsetzung des Friedhofes. Hierbei wurden die steinernen Einfassungen und die Grabmale gerichtet und, falls nötig, neu gegründet. Mit jedem Bauabschnitt gewann der Altstadtfriedhof mehr und mehr seine Wirkung zurück. 2006 konnte die Aussegnungshalle nach einer kompletten Sanierung, die durch eine Spende der Bürgerstiftung mitgetragen wurde, wieder ihrer eigentlichen Bestimmung übergeben werden: sie steht seit dem bei Urnenbeisetzungen für Trauerfeiern zur Verfügung.
(Aus: Zeugen der Stadtgeschichte: Baudenkmäler und historische Orte in Mülheim an der Ruhr, hrsg. vom Geschichtsverein Mülheim an der Ruhr e.V., Klartext Verlag, Essen 2008)