Die Augenheilanstalt von 1907

Augenklinik Mülheim, Quelle: Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr

Von: Monika von Alemann-Schwartz

Die alte Augenheilanstalt wurde am 4. Juli 1907 nach einer Planungs- und Bauzeit von etwa zwei Jahren feierlich eingeweiht. Der normale Klinikbetrieb und die ambulante Praxis des ersten Chefarztes Dr. Otto Stuelp begannen am 16. Juli 1907. Nach 77 Jahren musste die Klinik ihr altes Gebäude aufgeben. Medizinische Gründe und der inzwischen unhaltbare hygienische und technische Zustand der alten Anlage machten diesen Schritt notwendig. Ein Betriebsführungsvertrag mit der Stiftung Evangelisches Kranken- und Versorgungshaus sicherte ab 1982 die Weiterexistenz der bisherigen Augenheilanstalt als Augenklinik am Evangelischen Krankenhaus. 1983-1985 konnte hier ein hochmoderner Neubau gebaut und bezogen werden. Die frühere Augenheilanstalt lebt in der heutigen Augenklinik Mülheim an der Ruhr fort. Sie konnte 2007 ihr 100jähriges Bestehen feiern.

Grundstück und Gebäude der ursprünglichen Augenheilanstalt an der Von-Graefe-Straße waren die gemeinsame Schenkung des Ehepaares Dr. phil. und med. Johann Hermann Wilhelm Leonhard (1835-1905) und seiner Frau Margarete Stinnes (1840-1911), Tochter des Gründers der Firmendynastie Mathias Stinnes, an die Stadt. In der „Schenkung Augenheilanstalt“ vom 23. Februar 1904 verfügten die Stifter deren ausschließliche Nutzung „zur Errichtung und zum Betrieb einer Augenheilanstalt für Unbemittelte und Arme, welche dort unentgeltlich ärztliche Behandlung und Verpflegung finden können“. Damit reiht sich die Klinik ein in die wohltätigen Stiftungen zugunsten armer Kranker in Mülheim seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihr gingen u. a. das Evangelische Kranken- und Versorgungshaus von 1850 und das katholische St. Marien-Hospital von 1887 voraus.

Das Ehepaar dotierte innerhalb eines Jahres insgesamt drei wohltätige Stiftungen zugunsten der Stadt: die Gretchen-Leonhard-Stiftung im Dezember 1903, die Schenkung Augenheilanstalt im Februar 1904 und zur finanziellen Absicherung der beiden vorgenannten die ergänzende Kapitalstiftung „Leonhard-Stinnes-Stiftung“ vom November 1904. Aus Mitteln dieser Leonhard-Stinnes-Stiftung wurde die Augenheilanstalt dann erbaut und ausgestattet, und sie wird gemäß dem Stiftungszweck noch heute unterstützt.

Dr. phil und med. Johann Hermann Wilhelm Leonhard war der Sohn des ersten leitenden Klinikarztes im Evangelischen Krankenhaus von 1850. Zwölf Jahre praktizierte er dort neben seinem Vater und folgte ihm nach dessen Rückzug für zwei Jahre 1883-1884 auf die Chefarztposition. Aus eigener Anschauung kannte er die sozialen und gesundheitlichen Verhältnisse der armen Bevölkerung in Mülheim mit seinen engen Wohnquartieren, die häufig genug epidemischen Krankheiten Vorschub leisteten, den extremen Arbeitsbedingungen in den Werken der Hütten- und Eisenindustrie und dem geringen Arbeitsschutz mit entsprechenden Verletzungsgefahren. Und er war tagtäglich konfrontiert mit den Problemen der allgemeinen Armenkrankenpflege bei einem erst allmählich entstehenden Krankenversicherungswesen. Sein eigenes, seit 1860 chronisches Augenleiden schärfte dabei besonders sein Interesse an dem medizinischen Spezialgebiet Augenheilkunde. Der sinnvolle Einsatz des gemeinsam erworbenen Vermögens veranlasste das Ehepaar Leonhard-Stinnes schließlich 1904, nach dem frühen Tod beider Kinder, die Augenheilanstalt für unbemittelte und arme Kranke an der Heißener Straße, später Von-Graefe-Straße, zu gründen und der Stadt Mülheim zu schenken.

Als Spezial-Augenklinik stellte sie zu ihrer Zeit in ihrer Größe und Ausstattung eine Ausnahme und Besonderheit dar. Sie galt als modernste Klinik weithin und Musteranstalt. Jenseits der akademischen Fachkliniken existierten ansonsten kaum spezielle Augenheilanstalten, da die Ophthalmologie, die Augenheilkunde, als selbständiges fachmedizinisches Gebiet noch relativ jung war. Vorbild für Dr. Leonhard war wohl der große Ophthalmologe Albrecht von Graefe, der in Berlin eine Privataugenheilanstalt für arme Augenkranke in der Karlstraße, heute Reinhardstraße, gegründet hatte. Während seines dortigen Medizinstudiums hatte er ihn gehört.

Das Grundstück erwarb Dr. Leonhard 1904 von dem Gastwirt Johann Schmitz, der auf dem Gelände eine Sommerwirtschaft betrieb, in Mülheim bekannt als Johannesburg. Das beliebte Ausflugslokal war 1901 wahrscheinlich von dem Mülheimer Architekten Franz Hagen erbaut worden. Es lag in einem parkähnlichen Gartenareal auf einem 4942 qm großen Grundstück am Fuße einer Anhöhe mit Aussicht ins Ruhrtal. Auf hohem Sockel erbaut, turmüberkrönt, drei Stockwerke hoch, folgte es der Architekturform der Jahrhundertwende, einer Mischung aus Jugendstil und Heimatkunst. Ein gotisierender Staffelgiebel erhob sich über der südlichen Eingangsfront, die westliche Schaufassade zur Stadt hin war mit Fachwerk verblendet sowie großzügigen, verglasten Veranden über zwei Etagen, woran sich nördlich ein flacher, langgestreckter Glaszwischenbau anschloss. 

Nach ersten Plänen für die projektierte Augenheilanstalt im Herbst 1904 aus dem Büro des Beigeordneten Linnemann begannen die Bauarbeiten im Frühsommer 1905. Der Stifter erlebte die Fertigstellung nicht mehr. Er starb schon im November 1905.

Der imposante Klinikbau erhob sich weithin sichtbar auf der Richtung Heißen ansteigenden Von-Graefe-Straße. Er präsentierte sich als lebhaft gegliederte Gebäudeanlage. Zwei rechtwinklig aufeinandertreffende Gebäudeflügel bilden das Ensemble. Der Bau besaß ein Kellergeschoss, ein kaum unter Bodenniveau liegendes Sockelgeschoss, zwei Hauptstockwerke und ein hohes Dachgeschoss mit sog. Fledermausgauben. Das Dach des Gebäudeflügels im Park war deutlich niedriger. Das schwierige Geländeprofil gab die Bauorganisation vor. Das heißt, dass die repräsentative Schauseite der Augenheilanstalt ähnlich wie bei der Johannesburg quer zur eigentlichen Süd-Nord Gebäudeachse Richtung Westen, zur Stadt hin, orientiert war. Durch ein tiefes Gewändeportal, eine geflügelte Treppenanlage und Mittelrisalit mit Giebelabschluss erhielt die stadtzugewandte Südseite mit dem Haupteingang aber einen deutlichen Akzent. 

Haupteingangsfront und Stirnseite des Gebäudeflügels im Park zeigten charakteristische Schauseiten mit hohen Giebeln aus sog. Schweifwerk, Voluten und Doppelgesimsen. Der Giebel des Gebäudes an der Straße dominierte dabei durch seine Breite und seinen Gesimsschmuck mit Bekrönungen. Die Stirnseite des Parkflügels zierte ein zusätzlicher breiter Stützbalkon. Hohe Fenster, in der Breite variierend, gliederten die Fronten. Beider dekorativer Neorenaissancestil wies ihnen die Funktion der eigentlichen Hauptansichtsseite zu. Im Gebäudewinkel lockerten doppelgeschossige, überdachte Holzveranden auf bossierten Basaltsockeln und breite Fensterbänder die Gartenfront auf, dem Parkflügel war ein Holzerkeranbau vorgesetzt. Stilistisch machte sich in den letzteren Architekturteilen ein verhaltener Jugendstil-Einfluss bemerkbar. 

Die gesamte Sockelzone bestand aus blaugrauen Basaltlavablöcken. Die Gebäudekanten, Gesimse, Fensterlaibungen und Gliederungselemente sollen aus gelbgrauer Ettringer Lava gehauen sein. Die Gebäudeflächen waren lediglich glatt verputzt. Der Park bot in seiner Anlage mit Baumgruppen und Ruhebänken einen idealen Ort für Rekonvaleszenten.

Der Innenausbau wurde nach den damals neuesten Hygieneerkenntnissen vorgenommen. Sanitäre Einrichtungen und Operationssaal besaßen Terrazzoböden, die übrigen waren mit Linoleum belegt. Die Wände hatten einen abwaschbaren Emaillefarbenanstrich. Helle Keramikkacheln fassten in den Fluren die Türöffnungen ein, deckten in Schulterhöhe die Wände, begleitet von dekorativ gemalten Bordüren. Aus englischer Fayence bestanden die zahlreichen Badeeinrichtungen. Auch im Inneren deutete sich in einigen Teilen der Ausstattung wie Türblättern, Lampen, Tapeten, Treppengeländern oder Mobiliar sparsam der Einfluss des Jugendstils an. 

Die Anstalt sollte aber vor allem den damals neuesten medizinischen und wissenschaftliche Standards genügen. Dazu wurde sie mit einem zeitgemäßen Operationssaal, photographischer Dunkelkammer und einem Laboratorium für histologische, mikroskopische, chemische, bakteriologische und serologische Untersuchungen ausgestattet. 

Zunächst für 25 Patienten hergerichtet, konnte sie durchaus die doppelte Patientenzahl aufnehmen. Nach 5 Jahren hatte sich die Bettenzahl schon auf 50 Betten, 1922 auf 60, Ende des II. Weltkrieges auf 87 und bis 1950 auf 105 Betten erhöht. Die Klinik zog ihres medizinischen Rufs und ihrer Größe wegen auch überregional zahlreiche Patienten an. 

Der Zweite Weltkrieg hinterließ nach dem Bombenangriff des 22/23. Juni 1943 bei der Augenheilanstalt große Verwüstungen, von denen sich das Gebäude nie wieder erholt hat. Das Dachgeschoss und damit auch die Giebel wurden zerstört. Der Betrieb musste zunächst aufgegeben werden. Die einfachen, notdürftigsten Wiederherstellungen der Nachkriegszeit 1948 und dann in den 50er und 60er Jahre haben ihr Übriges getan und das charakteristische Bild der alten Augenheilanstalt für immer zerstört. Der heutige, beklagenswert gesichtslose Kasten erinnert in nichts mehr an die ehemals ausgewogene, architektonische Eleganz des Gebäudes. 

(Aus: Zeugen der Stadtgeschichte: Baudenkmäler und historische Orte in Mülheim an der Ruhr, hrsg. vom Geschichtsverein Mülheim an der Ruhr e.V., Klartext Verlag, Essen 2008)

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