von: Günter Fraßunke
Die Orgel steht in der Evangelischen Kirche zu Broich (an der Wilhelminenstraße). Ihr Aufbau wurde am 19. Dezember 1900 abgeschlossen und die Revision durchgeführt. Den Auftrag des Broicher Presbyteriums war an den „Königlichen Hoforgelbaumeister“ Wilhelm Sauer gegangen, ansässig seit 1857 in Frankfurt an der Oder.
Am 17. März 1901 – dem Sonntag Laetare – war es dann so weit: An diesem Tag wurde die Broicher Kirche eingeweiht und der Journalist der „Mülheimer Zeitung für die Stadt und den Landkreis Mülheim an der Ruhr“ konnte schwärmen: „Die weihevollen Akkorde der neuen Orgel brausten mächtig durch den herrlichen, stylvoll [sic] gehaltenen Raum und ließen ein feierliches Präludium ertönen.“
Die Orgelbaufirma, die heute etwa 30 km von Frankfurt im Ostbrandenburgischen Müllrose beheimatet ist, war Mitte Mai 2003 mit dem Ersatz der Prospektpfeifen beauftragt. Die Kirchengemeinde hatte 1917 die wertvollen Zinnpfeifen an die Rüstungswirtschaft abgeben und sich seitdem mit Pfeifen aus Zink behelfen müssen. Der Austausch war der letzte Schritt, um die Orgel wieder in ihren ursprünglichen Zustand zu versetzen.
Der Namensgeber der noch heute bestehenden Firma – Wilhelm Sauer (1831-1916) – lernte das Handwerk des Orgelbauers bei seinem Vater und ging dann auf Studienreise – wichtige Stationen waren Eberhard Friedrich Walcker in Ludwigsburg und Aristide Cavaillé-Coll in Paris. Beide galten als weltweit führende Orgelbauer. Von Walcker lernte Sauer die neuesten Entwicklungen der Windtechnik. Bei Cavaillé-Coll, dem „Meister der Meister“ des französisch-romantischen Orgelbaus, lernte er die Konstruktion von Orgelpfeifen, die den romantischen Klang eines Sinfonieorchesters nachbilden. [1]
Sauer wurde schnell zur bedeutendsten Orgelbaufirma im Königreich Preußen; anfängliche Startschwierigkeiten im Raum Berlin wegen des Vorwurfs der „Französelei“ [2] waren bald vergessen. Sauer lieferte in die Städte, die durch die Industrialisierung schnell wuchsen und neue Kirchen bauten, aber auch ins Baltikum und nach Russland.
Die Broicher Sauer-Orgel wird gern als „historische“ Sauer-Orgel bezeichnet – zu Recht. Zum einen umfasst der Bestand der historischen Orgelpfeifen über 90 %, zum anderen wurden angedachte Veränderungen im Sinne der Orgelbewegung [3] verhindert. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte dies „schlechte Presse“. Der renommierte Kirchenmusikdirektor Heinz Kirch, der bis 1945 die Sauer-Orgel des Wilibrordidoms in Wesel bespielte, kam als Kirchenmusiker nach Broich. Er kündigte 1963, weil in Broich kein „den modernen Anforderungen entsprechendes Instrument“ vorhanden war. Die Presse urteilte über die Broicher Kirche, sie sei „die einzige [nach dem Bombenkrieg] erhaltene Gottesdienststätte in Mülheim mit bescheidener Orgel“. Auch Heinz Kirchs Nachfolgerin ging nach sieben Jahren wegen des Instruments. [4]
Erst 1975 wurde die Wende eingeleitet durch ein Gutachten von Dr. Hans Martin Balz, einen Schüler von Siegfried Reda und Orgelsachverständiger der Kirche von Kurhessen-Waldeck, der der Broicher Orgel das Prädikat „erhaltenswert“ zubilligte.
Ein Jahr darauf wurde der Berliner Orgelbauer Karl Schuke mit der Restaurierung unter Verwendung des aufbewahrten Pfeifenmaterials beauftragt und Rückführung in den Ursprungszustand, sodass der Klangcharakter einer spätromantischen Orgel wiederentstand – Anteil historischen Pfeifenmaterials angeblich 96 %. Die Orgel gilt in Fachkreisen als kleine Kostbarkeit, weil viele Orgeln aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg modernisiert oder im Bombenkrieg vernichtet wurden.
Inzwischen haben auch einige Kirchengemeinden im Umfeld von Mülheim an der Ruhr ihre verborgenen „Sauerschätzchen“ neu entdeckt und restauriert: z.B. Alte Kirche Altenessen (1890), Friedhofskirche Wuppertal (1898), Lukaskirche Altenbochum (1899), „Bergmannsdom“ Essen-Katernberg (1901), Ev. Hauptkirche Rheydt (1902), Dortmund-Dorstfeld (1904, umgesetzt zur Stadtkirche Gronau) [5]
Wenn man bedenkt, dass auch die Berliner Domorgel (1905) zur Sauer-Familie gehört und mit 113 Registern die größte Sauer-Orgel ist, hat Broich immerhin eine „kleine ältere Schwester“ der Domorgel.
Die Orgel der Mariae Rosenkranz-Kirche in Styrum von der Orgelbaufirma Stahlhuth in Aachen weist ähnliche Merkmale auf wie die Broicher Orgel. Die historische Sauer-Orgel ist zwar einige Monate jünger, aber ob bei der Styrumer Orgel durch die Instandsetzungen bzw. Beseitigung von Kriegsschäden in den Jahren 1969 und 1989 der ursprüngliche Pfeifenbestand erhalten geblieben ist, war nicht zu ermitteln.
