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Die Verwaltungsgebäude der Thyssen Werke

Verwaltungsgebäude Fa. Thyssen, Quelle: Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr

Von: Horst A. Wessel

Wiesenstraße 35 „Haus der Wirtschaft“

Als August Thyssen 1871 nach Mülheim an der Ruhr kam und im damals noch selbständigen Styrum mit dem Bandeisenwalzwerk mit eigener Stahlherstellung unter der Firma Thyssen & Co. sein erstes Unternehmen gründete, richtete er die Verwaltung in dem mit dem bäuerlichen Anwesen übernommenen „Backes“ ein. Dies befand sich mitten auf dem Werksgelände, in unmittelbarer Nähe der Produktionsstätten. In dem kleinen ebenerdigen Fachwerkhäuschen waren das kaufmännische und das Betriebsbüro untergebracht, außerdem ein Lager. Es konnte und brauchte keinen repräsentativen Ansprüchen zu genügen. Der Verwaltungsaufwand hielt sich noch in Grenzen; Geschäftspartner besichtigten – wenn überhaupt – die Bandeisenherstellung und wurden im nahe gelegenen Wohnhaus des Unternehmers empfangen; Kapital- und Kreditgeber gab es nicht oder hatten keine Veranlassung, sich selbst ein Bild vom Geschäftsbetrieb zu machen, denn August Thyssen, der sich nicht von fremden Aktionären und Banken abhängig machen wollte, setzte auf die Finanzierung durch Familienvermögen oder festverzinsliche Einlagen kirchlicher Einrichtungen.

Als 1873, zwei Jahre nach Gründung des Unternehmens, das Wohngebäude des erworbenen Heckhofes frei wurde, zog August Thyssen mit seiner Frau dorthin um und nahm auch die Verwaltung mit. Erst 1879 wurde in der Nähe von Tor I, auf dem Werksgelände, ein Zentralbüro für die inzwischen gewachsene kaufmännische Verwaltung errichtet. Es war ein einfacher einstöckiger Backsteinbau mit Dachgeschoss, in dem auch August und sein Bruder Joseph Thyssen ein Zimmer hatten und in dem sich ein größeres Konferenz- und Besucherzimmer befand. Kurz vor der Jahrhundertwende wurde die Zentralverwaltung aufgestockt und beträchtlich erweitert – immerhin wurde von hier aus der inzwischen zweitgrößte deutsche Montankonzern geplant, gelenkt und kontrolliert. Es war ein unverputzter Ziegelsteinbau mit klarer Linienführung und harmonisch gegliederten Fronten, der dennoch wegen seiner Baumasse eher wie eine große Mietskaserne wirkte.

Bereits wenige Jahre später begann man mit der Planung eines neuen Gebäudes für die Zentralverwaltung. Es wurde nicht mehr im Werk, sondern am Rande des Werksgeländes, direkt an der Wiesenstraße, errichtet. Es kamen nun Angehörige anderer Konzerngesellschaften nach Mülheim, um zu beraten, Investitionsanträge zu stellen oder Rechenschaft abzulegen; außerdem begrüßte man Lieferanten und Kunden sowie Vertreter der Banken, der Verbände und der öffentlichen Verwaltung. Dafür benötigte man nicht nur geeignete Räumlichkeiten. Das Unternehmen hatte eine wirtschaftliche Bedeutung, die es als selbstverständlich erscheinen ließ, dies auch in seinem Äußeren, d. h. vor allem durch seine Gebäude, allen voran durch die der Öffentlichkeit zugewandte Zentralverwaltung, zum Ausdruck zu bringen. Bereits die Zentralverwaltung sollte schon bei der Annäherung über das Unternehmen informieren und dessen Charakter zeigen. Wir wissen, dass August Thyssen auf die Planung und Gestaltung des Gebäudes direkten Einfluss genommen und auch hier – bis zum Umzug in die neue Verwaltung auf der anderen Seite der Wiesenstraße – zusammen mit seinem Bruder Joseph ein Arbeitszimmer hatte.

Es kann deshalb nicht verwundern, dass natürliche Baumaterialien verwendet wurden und der Bau sich durch eine klare Linienführung auszeichnet. Seiner Aufgabenstellung entsprechend ist es ein großes Gebäude, das auf rechteckigem Grundriss errichtet wurde. Dennoch wirkt es keineswegs massig wie ein Klotz. Dafür sorgen eine für die damalige Zeit außerordentlich moderne Fassaden- und Dachgestaltung, die aus der Linie zurückgezogenen Ecken auf der Eingangsseite sowie der turmartige Aufbau an der Wiesenstraße. Für die Region typisch ist das hohe Sockelgeschoss, das durch relativ große Rundbogenfenster durchbrochen ist und das Gebäude auf allen Seiten gleichmäßig umschließt. Zum hohen Eingangsportal, das zwei Fensterachsen breit ist und mit seiner Doppelrahmung die Höhe der gesamten ersten Etage ausfüllt, führt eine breite Freitreppe empor

Rechts und links davon befinden sich je drei Fenster und darüber, durch breite Mauerlisenen voneinander getrennt, zwei Reihen mit jeweils acht Fenstern. Hinzu kommen jeweils zwei, bzw. im dritten Geschoss sogar drei, schmalere Fenster auf den rechts und links zurückspringenden Ecken auf der Eingangsseite. Die Fenster sind breit und vor allem hoch; sie lassen dem Tageslicht fast ungehindert Zutritt und betonen in Gemeinsamkeit mit den Wangen die Senkrechte, das aufrechte Emporstreben. Da die beiden äußeren Mauerachsen des Mittelteils breiter sind als die fünf inneren, wirkt die Fassade abwechslungsreich, und die sonst durch die regelmäßige Gliederung einer großen Fläche hervorgerufene Einfallslosigkeit wird vermieden. Dazu tragen auch die zurückgezogenen Ecken bei sowie die abwechslungsreiche Dachgestaltung. Letztere ist vielfach gegliedert und rechtfertigt die Bezeichnung „Dachlandschaft“. Sie beginnt bei den versetzten Ecken, deren zweite Etagen von kleinen, über Eck laufende – und die Längsseiten umschließende – Wetterdächer abgeschlossen werden und auf deren dritten Etagen sich die etwas zurückgezogenen 60-Grad-steilen Hauptdächer erheben. Dadurch entsteht der Eindruck einer stufenartigen Staffelung, einer Abtreppung der Dächer. Die große Dachfläche der Eingangsseite hat mittig durch einen sich über vier Fensterachsen ziehenden dacherkerähnlichen Aufbau, eine Schleppgaube mit acht kleinen Fenstern, über der sich ein gleichseitiger Dreiecksgiebel mit einem kleinen Rundfenster erhebt. Die Dächer der Flanken haben auf beiden Seiten Gauben.

Fassade und Dach an der Wiesenstraße besitzen mit dem aus der Fassade heraustretenden und die Firsthöhe überragenden Turm einen weiteren Gliederungs- und Blickpunkt. Zwar weist der auf rechteckigem Grundriss sich erhebende Turm die gleichen Strukturelemente auf, die das gesamte Gebäude kennzeichnen, aber seine in allen Dimensionen dominierende Masse verleiht ihm etwas Trutziges und Wehrhaftes. Er greift einstmals anderen Bauten Vorbehaltenes auf und überträgt es auf das Verwaltungsgebäude eines Industrieunternehmens. Das war zweifellos ein von August Thyssen akzeptiertes, wenn nicht sogar gewolltes Zeichen; denn dieser hatte es – trotz der immer wieder geäußerten Wünsche seiner Frau und seiner Kinder – abgelehnt, in den Adelsstand erhoben zu werden und in höfischen Kreisen zu verkehren. Bürgerkrone setzte er gegen das Adelswappen, den geraden Rücken gegen den Hofknicks, der Hände Arbeit gegen den Glanz der Welt. Er war nicht der Erbe, sondern der Konzerngründer. Dafür steht nicht zuletzt das Gebäude der Konzernzentrale Wiesenstraße 35. Es zeigt von außen auch heute noch das Aussehen von 1910, dem Jahr seiner Fertigstellung; lediglich die Grundstückseinfriedung ist verschwunden und die Dächer auf den Längsseiten haben, um zusätzlichen Raum zu schaffen, kleinere Dachaufbauten erhalten. eite Freitreppe des Haupteingangs erreicht man die Vorhalle mit den Zugängen zu den Seitenfluren, zum Souterrain und zu den Treppenhäusern sowie, vorbei an der auf der linken Seite des Mittelflures platzierten Portiersloge, den großen Lichthof. Die Wände der Flure sind wie die Portiersloge mit Eichenholz getäfelt. In den Fluren auf der Stirnseite befinden sich Wandschränke, die früher zur Unterbringung von Akten sowie als Garderobe genutzt wurden. Der drei Geschoss hohe Lichthof ist mit dunkelfarbigen Klinkern aufwendig gekachelt. Die Treppenhäuser und Flure sind großzügig ausgelegt.

Zunächst diente das Gebäude als Zentralverwaltung des Konzerns Thyssen & Co., ab 1923 der Unternehmensverwaltung der Maschinenfabrik Thyssen AG, ab 1926 der Werksverwaltung Mülheim der DEMAG, ab 1927 der Siemens-Schuckert-Werke GmbH, ab 1966 der Siemens AG, ab 1969 der Kraftwerk Union AG (KWU), ab 1997 der Siemens AG Power Generation; seit 2003 gehört das Gebäude als „Haus der Wirtschaft“ der Mülheimer Wohnungsgesellschaft und bietet unter anderem den Gründern neuer Unternehmen Platz – außerdem informiert seit 2008 eine museale Präsentation über  die wirtschaftliche Entwicklung Mülheims.

Relief zur Erinnerung an den Bleibergbau 1840-1906 in Sellerbeck, Haus der Wirtschaft Mülheim an der Ruhr, Quelle: Danny Gießner

Das Verwaltungsgebäude an der Wiesenstraße 36

Die rasche Expansion des Thyssen-Konzerns machte schon bald eine Korrektur der ursprünglichen Pläne notwendig. Das an der Wiesenstraße 35 errichtete Zentralverwaltungsgebäude war bereits nach wenigen Jahren zu klein. Insbesondere die ehemalige Abteilung V, die „Maschinenreparaturwerkstatt“, hatte sich nach der Aufnahme des Großgasmaschinenbaus zu einem eigenen Unternehmen entwickelt, dessen Verwaltung und Konstruktionsbüros ein eigenes Gebäude benötigten. Deshalb begann man im Jahre 1911 mit den Vorbereitungen zur Errichtung eines weiteren Verwaltungsgebäudes gleich gegenüber auf der anderen Seite der Wiesenstraße. Während das schon vorhandene Gebäude der Maschinenbau-Gesellschaft vorbehalten bleiben sollte, war der zu errichtende Neubau zur Aufnahme der gleichfalls gewachsenen Konzernverwaltung bestimmt.

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges verhinderte die Ausführung. Erst Anfang der 1920er Jahre konnte, verzögert durch Arbeitskämpfe, Ruhrbesetzung durch französisches und belgisches Militär sowie den Passiven Widerstand dagegen, ferner durch die Währungsturbulenzen, mit den Bauarbeiten begonnen und im Juli 1924 das Gebäude bezogen werden. Die von dem hoch angesehenen Mülheimer Architekten Franz Hagen entworfenen Pläne waren noch von dem inzwischen über 70jährigen August Thyssen genehmigt worden – und der über 80jährige hat bis zu seinem Tod im Jahre 1926 im östlichen Eckzimmer des rechten Flügels sein Büro gehabt. 

Die neue Konzernverwaltung passte in ihrem Äußeren zum Vorgängerbau auf der anderen Seite der Wiesenstraße. Auch dafür wurden innen und außen nur echte Materialien verwendet. Weil in der Phase der Hochinflation die Ziegelsteine nicht bar bezahlt werden konnten, tauschte man dafür Steinkohle aus den eigenen Gruben ein. Wie es den Vorstellungen des Unternehmensgründers entsprach, zeichnet sich der Bau durch beeindruckende Schlichtheit wie durch klare Linienführung aus, ohne indes auf schmückende Elemente zu verzichten. Auf rechteckigem Grundriss wurde auf mächtigem Sockelgeschoss ein großer, fünf Geschoss hoher Kubus errichtet. Dieser beeindruckt trotz seiner mächtigen Größe durch seine Fassadengestaltung.

Die Stirn- bzw. Eingangsseite zeigt eine Dreigliederung, bei der der mittlere Teil deutlich hervortritt. Zwei Strukturelemente tragen dazu wesentlich bei: Zum einen steht der Mittelteil etwas vor den beiden Seiten. Zum anderen werden bei diesen die waagerechten Linien durch einen schmaleren Doppelband oberhalb des Erdgeschosses sowie breite Mauerbänder zwischen den übrigen Stockwerken hervorgehoben. 

Dagegen betonen beim Mittelteil elf Lisenen, die vom Erdboden bis zur Traufe reichen, die Senkrechte; den Abschluss bildet ein waagerechtes Mauerwerksgesimsband, dass ein gleichmäßig geometrisches Muster aufweist.

Der Mittelteil wirkt wie ein mächtiges Eingangsportal. Dieses befindet sich – im Unterschied zum Vorgängerbau – nicht über einer Freitreppe, sondern ebenerdig und erstreckt sich samt seinem hellen Rahmen aus Sandstein in der Breite über zwei Fensterachsen bzw. zwei Lisenen, während die dritte Lisene mittig über der Eingangstür endet und Platz lässt für das Namensschild; dieses fügt sich wie ein ornamentaler Schlussstein in den Rahmen. Es trägt das Zeichen des Unternehmens, dem es als Verwaltung diente, nämlich     für Thyssen & Cie. 

Rechts vom Eingang trägt die Lisene den Namen des Architekten Franz Hagen und auf der linken Seite – seit dem Umzug der Zentralverwaltung der Mannesmannröhren-Werke von Düsseldorf nach Mülheim – den Namen des jetzigen Nutzers und Besitzers. Auch die Rückseite des Gebäudes ist dreigeteilt; hier wird der Mittelteil gleichfalls durch elf Lisenen strukturiert. Allerdings wurde als Baumaterial ausschließlich Ziegelstein verwendet, so dass die waagerechte Konturierung nur angedeutet wird. Lediglich die schmalen Bänder, die die Stockwerke auf den Flanken des Gebäudes unter den Fenstern nachzeichnen, werden um die Ecken gezogen und finden auf der Rückseite ihre Fortsetzung. Ein rückwärtiger Zugang ist nicht vorhanden.

Die hochrechteckigen Fensterbänder lockern die großen Flächen des Baukörpers auf und geben ihm etwas Graziles. Allerdings füllen sie, anders als beim Nachbargebäude, die Fassadenflächen nicht ganz aus, sondern lassen an allen vier Ecken massives Mauerwerk undurchbrochen stehen; es hält scheinbar den massigen Baukörper zusammen, verleiht ihm etwas wehrhaft Festes. Auf den zweiten Blick ist zu erkennen, dass die Ziegelsteine nicht Lage für Lage gemauert wurden. Sie bilden zwischen den Fensterstürzen und den waagerecht verlaufenden Brüstungsbändern geometrische Muster. Diese sind auf den Flanken und der Rückseite gleich, allerdings auf der Eingangsseite mit größerem Aufwand gestaltet.

Das Dach kragt über die Fassade, weist eine 60-Grad-Neigung auf und unterstreicht durch seine walmartige Form den monumentalen und zugleich eleganten Stil des Baues. Moderne Dachfenster, die die Nutzung des Dachgeschosses als Büroraum erlauben, fügen sich unauffällig in das Gesamtbild. Den würfelartigen Dachaufbau an der Stirnseite zierte früher das Zeichen des jeweiligen Nutzers, zuletzt das MW im geschlossenen Kreis der Mannesmannröhren-Werke. Historische Fotos zeigen auch den Namenszug auf dem Dach, z. B. den der Deutschen bzw. der Rheinischen Röhrenwerke und von Phoenix-Rheinrohr.

In den 1990er Jahren, als der Umzug der Zentralverwaltung der Mannesmannröhren-Werke von Düsseldorf nach Mülheim vorbereitet wurde, erhielt das Gebäude eine moderne wettersichere Vorfahrt, und auf der Rückseite wurde ein neues Kantinengebäude errichtet. Zugleich wurden die Grünanlagen, die das Gebäude umgeben und seinen freundlichen, einladenden Gesamteindruck im jahreszeitlichen Wechsel wirkungsvoll unterstreichen, gestaltet. Die Straßenüberbauung, die die beiden Häuser an der Wiesenstraße 35 und 36 verbindet, besteht seit 1923, dem Jahr der Fertigstellung der zweiten Verwaltung. Sie ist wie die beiden Gebäude in Ziegelsteinmauerwerk ausgeführt und wirkt wie ein Tor, das die Zufahrt zum Werksgelände freigibt. Die Überbauung ist vom Haus Wiesenstraße 36 zugängig und hat zwei Stockwerke, deren unteres mittig durch fünf putzumrahmte Fenster belichtet wird; der Zugang von der anderen Seite ist zurzeit vermauert. 

Nach dem Passieren des Windfangs erreicht man den Eingangsbereich mit einer breiten Zugangstreppe; diese hat noch die originalen aus Holz geschaffenen Handläufe und die mit Marmor getäfelten Wände. Das Hochparterre gliedert sich in einen breiten Umgang und wird dominiert durch einen großen hellen Lichthof. Die moderne, aus Glas gestaltete Portiersloge ist erst in den 1990er Jahren gegenüber dem Eingang platziert worden. Einfache geometrische Muster befinden sich auch im Inneren des Gebäudes, z. B. der Dreiecksgiebel über der Tür zu den Tagungsräumen, oder – in den noch feuchten Putz – als Riffelmuster in die Säulen eingedrückt. Die Umgänge in den oberen Stockwerken öffnen sich zum Lichthof und wirken ausgesprochen kommunikativ – die aus Feuerschutzgründen nachträglich eingebauten gläsernen Feuerschutztüren wirken schalldämmend. Der Gesamteindruck ist freundlich und beschwingt – und vermittelt eine fast mediterrane Atmosphäre.

(Aus: Zeugen der Stadtgeschichte: Baudenkmäler und historische Orte in Mülheim an der Ruhr, hrsg. vom Geschichtsverein Mülheim an der Ruhr e.V., Klartext Verlag, Essen 2008)

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