von: Thomas Emons
Kinder, die ohne Eltern aufwachsen, weil diese gestorben sind oder sehr oft auch ihrer Erziehungspflicht nicht nachkommen können oder wollen: Das ist kein Phänomen unserer Tage, in denen man geneigt ist, über den Werteverfall zu klagen und sich nach der vermeintlich guten alten Zeit zurückzusehnen. Wer in der Geschichte genau hinschaut wie etwa Familienforscherin Bärbel Essers, merkt schnell: Auch früher waren Kinder, die keine starken Eltern im Rücken hatten, von Vernachlässigung und Verwahrlosung bedroht.
So ist Essers bei ihrer Auswertung der Volkszählung von 1861 unter anderem auf das erste städtische Waisenhaus gestoßen, das am 1. November 1858 in Broich seine Arbeit begann und zunächst 20 Kinder in seine Obhut nahm. Den entsprechenden Beschluss zur Eröffnung einer solchen Einrichtung hatten die Stadtverordneten bereits im September 1858 gefasst, um damit einem preußischen Gesetz vom Mai 1852 Rechnung zu tragen. Danach konnten die Städte Polizeistrafgelder für die Versorgung von Waisenkindern in Anspruch nehmen, wenn sie denn ein städtisches Waisenhaus vorzuweisen hatten.
So schritten die Ratsherren zur Tat und verabschiedeten Statuten für das neue Waisenhaus der Stadt, in deren Paragraph 1 es hieß:
„Das Waisenhaus ist eine städtische Anstalt und hat den Zweck: Waisen und andere hülfsbedürftige und verlassene Kinder aus der Stadtgemeinde Mülheim aufzunehmen, um ihnen eine tüchtige Erziehung zu geben und sie zu tauglichen Gliedern der bürgerlichen Gesellschaft heranzubilden.“
Als Aufsichtsgremium wählten die Stadtverordneten ein vierköpfiges Gremium, an dessen Spitze der Bürgermeister stand. Der für ein Jahresgehalt von 150 Talern bestellte Heimvater, ein aus Remscheid stammender Lehrer mit dem Nachnamen Grimm, hatte der Stadtverordnetenversammlung spätestens alle zwei Jahre Bericht zu erstatten.
In einem dieser Berichte heißt es unter anderem: „Im Anfang fehlten bei den meisten Kindern der Eifer, der Takt in der Arbeit, denn viele waren an kein geregeltes Arbeiten gewöhnt. Im Ganzen zeigen die Kinder Lust zum Lernen und viele machen dem Hausvater Freude durch ihren Fleiß.“
Der Heimvater achtete nicht nur darauf, dass die Kinder zur Schule gehen, sondern auch im Waisenhaus nicht dem Müßiggang anheimfielen. Alle mussten mit anfassen, ob beim Bettenmachen, beim Kartoffelschälen oder bei der Gartenarbeit.
Der Tag begann morgens früh um 6 Uhr und vor dem Gang zur Schule wurde eine Hausandacht abgehalten. Der Speiseplan der Kinder war spartanisch: hauptsächlich Gemüse und Kartoffeln, Fleisch gab es mittwochs und samstags. In der Regel wurden die Jungen mit 14 und die Mädchen mit 15 Jahren aus dem Waisenhaus dann in den Ernst des Lebens entlassen. Das städtische Waisenhaus zog fünf Jahre nach seiner Eröffnung in ein neues Gebäude an der Kettwiger Straße, das aber seit 1875 als Schule genutzt wurde.
Jetzt wurden elternlose Kinder und Sozialwaisen vor allem von der 1873 durch Gertraud Schmits ins Leben gerufenen Schmits-Waisenstiftung betreut. Hinzu kam das katholische Waisenhaus an der Kaiserstraße, das zur Keimzelle des Raphaelhauses werden sollte, welches 1968 nach 40 Jahren im Franziskushaus im Luisental sein Zuhause am Saarner Auberg finden sollte.