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Die Broich-Speldorfer Wald- und Gartenstadt AG

Werbeplakat der Wald- und Gartenstadt AG (Quelle: Stadtarchiv)
Werbeplakat der Wald- und Gartenstadt AG (Quelle: Stadtarchiv)

von: Katrin Gems

Die Villa auf dem Lande: Gründung der AG

Am 9. März 1906 bittet der Bankier Walter Hammerstein in einem Schreiben an den Oberbürgermeister Paul Lembke um die Aufstellung und Vorlage eines Bebauungsplanes für das Broich-Speldorfer Waldgebiet. Die Gründung der Broich-Speldorfer Wald- und Gartenstadt Aktiengesellschaft sollte nicht weiter hinausgeschoben werden.

Im 1904 nach Mülheim eingemeindeten Waldgebiet sollte eine „Waldansiedlung für den Industriebezirk“, so der Titel einer Broschüre der AG, geschaffen werden. Die Gründungsmitglieder der AG waren Industrielle aus Duisburg, Mülheim und Gelsenkirchen, unter ihnen der Vorsitzende der Gelsenkirchener Bergwerks A.G. Emil Kirdorf sowie das Gertraud und Anna Schmits Waisenstift zu Mülheim Ruhr, die Hälfte der Anteile hielt die Stadt Mülheim selbst. Unter den Besitzern der Grundstücke finden sich prominente Namen: Gustav Stinnes, Kommerzienrat Dr. Gerhard Küchen, ein Cousin von Hugo Stinnes, der Fabrikbesitzer Christian Weuste, aus dessen Familie der Mülheimer Bürgermeister gleichen Namens stammte, auch Emil Kirdorf und Walter Hammerstein. Hugo Stinnes hatte bereits ein großes Waldgebiet an der Ostgrenze der AG erworben. Den “finanziell besser gestellten Schichten“, so eine Werbebroschüre der AG, sprich dem wohlhabenden Bürger bis hin zum Industriellen, sollte hier die Möglichkeit eröffnet werden, nahe der Stadt Mülheim in idyllischer Landschaft, fern vom Lärm und Schmutz der Stadt zu siedeln.

Die Stadt Mülheim hatte im 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung einen starken Wandel erfahren. Aus dem beschaulichen Schiffer- und Fischerstädtchen am Hellweg, das allerdings schon lange auch mit Kohle handelte, entwickelte sich durch die im 19. Jahrhundert rapide steigende Nachfrage nach Steinkohle und dem ab 1770 erfolgten Ausbau der Ruhr zum Schifffahrtsweg eine Industriemetropole mit ihren Vor- und Nachteilen. Der günstige Standort zog Kaufleute und Unternehmer aus der näheren und weiteren Umgebung an, die sich in Mülheim ansiedelten und die verschiedensten Unternehmen gründeten. Leder-, Tuch- und Papierfabriken entstanden, Schifffahrt und Kohlenhandel florierten. Bereits 1811 gründeten die Brüder Dinnendahl eine Maschinenfabrik, 1819/20 eine Eisenschmelze, die spätere Friedrich-Wilhelms-Hütte. Die Einwohnerzahl stieg zwischen 1822 und 1846 um das Dreifache.

Vom „Haus bei der Fabrik“ zur Villa im Park

Aus den alteingesessenen und neu hinzugekommenen Unternehmerfamilien wuchs eine selbstbewusste Bürgergemeinde zusammen, die durch Heirat untereinander und den protestantischen Glauben, zu dem sich der allergrößte Teil der Familien bekannte, geeint wurde. Die Produktionsstätten und Fabriken lagen mitten in der Stadt, direkt daneben entstanden, vor allem ab der Jahrhundertmitte, repräsentative Villen. Viele dieser Villen entstanden in der Straße „Am Froschenteich“, der heutigen Friedrich-Ebert-Straße, in direkter Nachbarschaft der Kontore, so die Wohnhäuser von Mathias Stinnes (vor 1857), des Bankiers und Kaufmanns Ernst Nedelmann (1860) und August Thyssens (um 1872). Bald hatten sich so bevorzugte Wohngegenden herausgebildet, die sich allerdings auf Straßenabschnitte oder einzelne Straßenzüge beschränkten. Dazu gehörten u. a. die Delle, die Eppinghofer Straße, die Louisenstraße und die Friedrichstraße. Während die Villen der Friedrichstraße in enger Reihung standen, waren die Villen des Industriellen August Thyssen und des Papierfabrikanten Vorster (vor 1841) von großzügigen Parks umgeben, die die Villen von den sie häufig umgebenden Produktionsstätten abgrenzten. Auch Johann Gustav Stinnes, einer der größten Kohlenhändler Mülheims, hatte bereits vor 1857 eine solche Villa errichten lassen. Diese Häuser waren mit einigem Komfort ausgestattet: Im Erdgeschoss der Thyssen-Villa am Froschenteich lagen die Empfangsräume, der Wintergarten, das Speise- und das Billardzimmer, die Schlafräume der Familie befanden sich im ersten Stock. Etwas später als die Villa selbst entstanden Wohnungen für Gärtner und Kutscher, Wagenremise und Pferdestall sowie eine Reitbahn. Gerade der Wintergarten gehörte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unverzichtbar zum Programm der großbürgerlichen Villa. Er dokumentierte mit seinen kostspieligen Eisenkonstruktionen die Finanzkraft des Bauherrn und bot darüber hinaus das in der Industriestadt zum raren Gut werdende Grün. Auch das freistehende, vom Park umgebene Haus betonte den Status des Besitzers: je größer das Grundstück, desto wohlhabender. Das so genannte „Löwenhaus“ auf der Delle, in dem Hugo Stinnes aufwuchs, war eine in der Reihe stehende zweistöckige klassizistische Stadtvilla mit einer breiten Freitreppe, die von zwei Löwenskulpturen flankiert wurde. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wurde neben dem Haus ein großer Wintergarten in der Art eines Palmenhauses errichtet, der das Gebäude deutlich von den anderen Häusern der Delle abhob. Zusätzlich wurde ein „Zulastsaal“ errichtet, in dem die Mutter von Hugo Stinnes, Adeline Coupienne, die bis 1925 im Löwenhaus wohnte, musikalische Veranstaltungen und Dichterlesungen organisierte. Das Löwenhaus verfügte außerdem über einen großzügigen Garten hinter dem Haus, in dem neben Treibhäusern auch eine Grotte lag. Es wird deutlich, dass Sehnsucht nach Natur und Repräsentationsbedürfnis hier eine enge Verbindung eingingen. Schon der Begriff „Villa“, der aus der Antike stammt, bezeichnet das „Haus auf dem Land“. Mit zunehmendem Wohlstand und gleichzeitig zunehmendem Lärm und Schmutz der Fabriken in den Städten des 19. Jahrhunderts stieg das Bedürfnis der wohlhabenden Bürger nach Abgrenzung. Die an die Stadt gebundenen Kaufleute kultivierten mit ihren Villen und Gärten eine Erinnerung an das Landleben. Joseph Thyssen baute in den Jahren 1898-1900 seine Villa am Rand außerhalb des industrialisierten Nordens der Stadt auf der Dohne in einem malerischen Park direkt am Ufer der Ruhr, zu dieser Zeit sicher eine der repräsentativsten Villen in Mülheim, passend zu ihrem Besitzer. Joseph Thyssen war zu dieser Zeit, nach Hugo Stinnes und seinem Bruder August, wahrscheinlich der drittreichste Mann Mülheims. Auch August Thyssen, dessen Haus am Froschenteich 100 in der Nähe seines Werkes lag, suchte zu dieser Zeit, möglicherweise gedrängt von seiner Familie, nach einem ruhigeren und repräsentativeren Wohnsitz. 1903 erwarb er das außerhalb Mülheims gelegene Schloss Landsberg, das er im September 1904 nach einem umfangreichen Ausbau „zu einem repräsentativen Herrensitz, den neuzeitlichen Anforderungen entsprechend“, wie der Architekt Otto Lüer seinen Auftrag beschrieb, bezog. August Thyssen selbst beschrieb Landsberg so: “Landsberg ist das einzige Gut, was man per Wagen von Mülheim aus erreichen kann. Dabei hat es guten Wald und Wasser. Auch die Lage in den Bergen ist mir erwünscht.“ Einer der angesehensten und wohlhabendsten Bürger Mülheims war also von der Stadt aufs Land „geflüchtet“ und hatte sich an einem Ort niedergelassen, der ihn deutlich aus der Mülheimer Gesellschaft heraushob. Möglicherweise hat der Umzug Thyssens die Idee zur Gründung der Wald- und Gartenstadt AG gefördert. Thyssens neuer Wohnsitz lag auf dem Gebiet der Gemeinde Kettwig. Da die Gewinnversteuerung der Unternehmer am Wohnort erfolgte, erlitt die Stadt Mülheim durch seinen Umzug finanziell einen schweren Verlust. Die Ansiedlung von Industriellen im Mülheimer Gebiet hätte der Stadt aber einen Anstieg der Einnahmen bescheren können, die auch ihren Einwohnern zugute gekommen wäre. So diente auch das Engagement der Gründungsmitglieder, die fast alle Kaufleute und Fabrikanten waren, wohl nicht nur der Verschönerung der eigenen Umgebung, sondern ist auch als bürgerschaftliches Engagement zu verstehen. In den Werbebroschüren der Broich-Speldorfer Wald- und Gartenstadt AG wird die Zielgruppe klar angesprochen: „Die Wohnungsfrage ist für den rheinisch-westfälischen Industriellen fast brennender als für alle anderen Stände. Innerhalb des Reviers ein Fleckchen Erde zu finden, das vom Russe der Schornsteine, das vom Staub der Straßen, vom Lärm der Fabriken, von den giftigen Dünsten der Hochöfen nicht erreicht wird, ist fast zur Unmöglichkeit geworden…Auf die frühere, viel beklagte Landflucht folgt als natürliche Gegenwirkung die Stadtflucht. Man sehnt sich aus dem nervenzerüttenden Lärm, aus dem Hasten und Jagen der Großstadt hinaus auf das Land, wo man ruhiger und freier zu wohnen und womöglich in einem Garten ein Stückchen Natur zu genießen, Erfrischung und Erholung zu finden hofft“. Die „Vaterstädtischen Blätter“ vom 14. Dezember 1907 schrieben, das Bestreben der Broich-Speldorfer Wald- und Gartenstadt sei „in der Hauptsache darauf gerichtet, Kaufleuten, Fabrikanten, Beamten, Gewerbetreibenden und Rentnern im Industriebezirk eine gesunde schöne Wohnstätte zu erhalten und so eine Flucht aus den Städten der Industrie an den Rhein von Bonn nach Koblenz und darüber hinaus vorzubeugen.“ Die Broich-Speldorfer Wald-und Gartenstadt AG bot dagegen ein 1612 Morgen großes Waldgebiet, dessen Bebauung ausschließlich Wohnzwecken vorbehalten blieb. Auch diese Bebauung wurde streng reglementiert, um den Waldcharakter zu erhalten. Die Broschüre der AG betont die verkehrsgünstige Lage zur Stadt. Zur Erschließung des Gebietes wurden Wege und Straßen angelegt, auch die Straßenbahn fuhr durch das Waldgebiet. So sollte es möglich sein, im Grünen zu wohnen und dennoch die umliegenden Städte Mülheim, Duisburg, Essen und Düsseldorf und damit die Arbeitsstätten innerhalb kürzester Zeit zu erreichen. Die Werbebroschüre führt hier das Beispiel Emil Kirdorfs an, der jeden Morgen zu seinem Arbeitsplatz nach Gelsenkirchen fuhr.

Die Broich-Speldorfer Wald- und Gartenstadt AG war durchaus keine Einzelerscheinung. Sie orientierte sich, wie es der Name auch schon sagt, an der im 19. Jahrhunderts in England als
Reaktion auf das unkontrollierte Wachstum der Industriestädte entstandenen Gartenstadtbewegung. Diese propagierte ein Leben im Grünen, die Synthese von Stadt und Land, also Siedlungen in naturnaher und aufgelockerter Siedlungsstruktur. Wohnen und Arbeit sollten dabei getrennt werden. Die Bewohner der Gartenstadt sollten Ruhe und frische Luft genießen können. Bereits im 19. Jahrhundert waren in Deutschland Villenkolonien aus ähnlichen Überlegungen heraus entwickelt und gebaut worden. Diese Kolonien, z. B. Grunewald bei Berlin, lagen außerhalb der Städte in landschaftlich schönen Gegenden, die verkehrsgünstig gut angebunden waren. Die Bebauung bestand aus freistehenden Einzelhäusern, die dazugehörigen Grundstücke waren häufig jedoch auf ein Mindestmaß reduziert, da die Grundstückspreise enorm waren. Die Grundstücke der Broich-Speldorfer AG mussten dagegen eine bestimmte Mindestgröße einhalten, eine Parzellierung unter fünf Morgen war lediglich an den Rändern der Siedlung vorgesehen. Nur 10 % eines Grundstückes durften überbaut werden. Um den Ankauf großer Grundstücke möglich zu machen, wurde der Grundstückspreis relativ niedrig gehalten. Der als Experte hinzugezogene Berliner Architekt Hermann Muthesius, einer der bedeutendsten Verfechter der Gartenstadt in Deutschland, bescheinigte daher: „ Mir ist kein zweites Unternehmen in Deutschland und in anderen Ländern bekannt, das so auf die jetzt einsetzende Bewegung zugeschnitten wäre, wie die „Broich-Spedorfer Wald- und Gartenstadt“ und „In einer wirklich großzügigen Weise ist hier dafür gesorgt, daß die Grundstücke in einem Umfange erhalten bleiben , der den Waldcharakter vollkommen wahrt“. Trotz der so günstigen Bedingungen und der sorgsamen Vorbereitung und Planung, zu der viele bekannte Künstler, wie der Gartenbaudirektor Fritz Enke (Köln), Prof. Wilhelm Kreis (Düsseldorf), Prof. Karl Henrici (Aachen), Gartenbaudirektor Julius Trip (Hannover) sowie der Essener Beigeordnete Robert Schmidt, der geistige Vater und erste Verbandsdirektor des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk, hinzugezogen wurden, wurden nur drei große Landhäuser im Mülheimer Wald realisiert, daneben noch einige kleinere Villen am Uhlenhorstweg und am Worringer Reitweg.

Drei Villen und ein Plan: Bedeutende Bauten im Mülheimer Wald  

Der Streithof – Emil Kirdorf

Das erste große Landhaus auf dem Gebiet der AG, der Streithof Kirdorfs, war in den Jahren 1905 bis 1907 entstanden. Emil Kirdorf, seit 1873 kaufmännischer Direktor der Gelsenkirchener Bergwerks AG und Mitbegründer des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats, wählte ganz bewusst die Waldeinsamkeit für die Errichtung seines Alterssitzes. Schon der Name des Hauses drückt einen Wunsch des Hausherrn aus. Er schrieb über den Bergarbeiteraufstand von 1905:“Diese Verhältnisse machten mich zum Vorkämpfer in uns aufgezwungenen Streit…Zur Erinnerung an diese Zeit…habe ich mit Zustimmung meiner Gattin beschlossen, dem Neubau den Namen ‚Streithof‘ beizulegen, hoffend, daß er den Meinigen und mir und meinen Nachkommen eine Stätte des Friedens und Glücks werde.“ Der Streithof ist kein Landhaus im eigentlichen Sinn, sondern in Anlage und Architektur dem niedersächsischen Bauernhaus nachempfunden. Das große Herrenhaus liegt an einem Innenhof mit Brunnen und besteht aus zwei Bauteilen: Am Hof liegt ein eingeschossiges, lang gestrecktes Gebäude mit Schopfwalmdach, das „Dielenhaus“, und daran direkt anschließend am abfallenden Gelände ein fast quadratisches Gebäude mit Zeltdach, das „biedermeierliche“ zweigeschossige Wohnhaus. Ursprünglich waren Dielen- und Wohnhaus mit Efeu bewachsen. Um den Innenhof gruppieren sich weitere Gebäude: Remisen, Stallungen, Autoschuppen, Geschirrkammer sowie Chauffeur- und Gärtnerhaus, so dass der Eindruck einer Hofanlage entsteht. Die Fassade des Hauses ist bewusst schlicht gehalten, weiß verputzt das Wohnhaus mit rustikalem, grün gestrichenem Holzportal. Der in Terrassen angelegte Garten wurde von dem bekannten Düsseldorfer Gartenarchitekten Reinhold Hoemann entworfen. Auch im Innern war das Haus bewusst rustikal gehalten. Eine ursprünglich geplante Dekoration der Diele im Rokokostil wurde zugunsten einer bodenständig „deutschen“ Einrichtung verworfen. Der Hausherr identifizierte sich sehr mit seinem Haus und nahm großen Einfluss auf die Planung. Die Baupläne lies er von dem Assistenten am Düsseldorfer Kunstgewerbemuseum, dem Architekten Wilhelm Zaiser, ausarbeiten. Kirdorf verzichtete wohl bewusst auf erfahrene Architekten, um seine Vorstellungen umsetzen zu können. Das Haus, als ganz privater Rückzugsort geplant, ist deutlich von den Überzeugungen Kirdorfs geprägt worden. Zwar besitzt auch der Streithof einen Wintergarten, aber es ist das beinahe einzige Zugeständnis an die wilhelminische Villenarchitektur. Der antifeudal-bürgerlich eingestellte Kirdorf, der 1911 die Verleihung des Adelstitels ablehnte, vermied in der Gestaltung seines Hauses jeden feudalen Luxus. Die rustikale Einrichtung der Diele und die Biedermeiereinrichtung des Wohntraktes galten Kirdorf als „kerndeutsch“. Die Architektur des Streithofs orientiert sich damit an einer Reformbewegung, die die Betonung nationaler und regionaler Eigenarten vorsah. Diese Strömung, häufig als „Heimatstil“ bezeichnet, erfuhr später im Nationalsozialismus eine besondere Förderung. Kirdorf selbst wurde im hohen Alter einer der Förderer Hitlers, der den Streithof auch mehrmals unter großem Aufsehen besuchte.

Villa Anita – Fritz Thyssen

Ein weiteres Landhaus wurde 1910/11 auf dem Grundstück Großenbaumer Straße 250 errichtet. Der älteste Sohn August Thyssens, Fritz Thyssen, hatte nach dem Umzug seines Vaters nach Landsberg zusammen mit seiner Frau Amelie zunächst das Haus auf dem Froschenteich 100 bezogen. Der anglophile Fritz Thyssen wünschte sich eine repräsentative Villa im Stil eines englischen Landhauses und fand in dem Krefelder Architekturbüro Girmes & Oediger, das über eine langjährige Erfahrung im Bau von Landhäusern verfügte, aber überregional keinen großen Namen besaß, die geeignete Unterstützung. Das Grundstück, 70 000 qm groß und direkt an der Zufahrt zu Kirdorfs Streithof gelegen, hatte Thyssen kurz zuvor von dem Bankier Walter Hammerstein erworben. Hier wurde nun ein zweigeschossiger, zweiflügeliger roter Backsteinbau mit Walmdach errichtet, der alle Kennzeichen des englischen Neobarock trägt und auch im Grundriss dem Vorbild des englischen Herrensitzes folgt. Der Architekt Hermann Oediger reiste zur Vorbereitung des Projekts mehrfach nach England. Es entstand ein Gebäude, das zeitgenössische englische Vorbilder direkt kopierte.

Das Gebäude war von einem konsequent auf das Haus bezogenen Park umgeben. Die Parkanlage lehnte sich an englische und italienische Vorbilder an und war mit Lauben und Aussichtspunkten „möbliert“. Thyssen benannte seinen Wohnsitz nach seiner einzigen Tochter „Villa Anita“. Das Haus wurde reich mit Kunstwerken ausgestattet, möglicherweise war es die kostbarste Sammlung im Ruhrgebiet überhaupt. Fritz Thyssen gehörte nach dem ersten Weltkrieg zu den führenden deutschen Industriellen. Nachdem er zunächst Hitler unterstützt hatte, sprach er sich vehement gegen die Vorbereitung des Krieges aus und wurde zusammen mit seiner Frau gefangen genommen, sein Besitz enteignet. Die „Villa Anita“ diente zunächst als Schule für Kindergärtnerinnen, nach dem Krieg als britisches Internat. Fritz Thyssen kehrte nicht mehr in das Haus zurück, das ihm nach dem Krieg zurückgegeben wurde. Er wanderte nach Südamerika aus, wo er 1951 starb. Die Villa wurde 1973 an die Familie Grillo verkauft. 1993 wurde das Haus bei einem Brand bis auf den Wirtschaftsflügel zerstört. Ein Wiederaufbau fand 2001/2002 im Rahmen des Projektes „Villenpark Uhlenhorst“ statt.

Haus Küchen – Gerhard Küchen

Im Jahr 1913 errichtete auch Gerhard Küchen, ein Cousin von Hugo Stinnes und wie er Enkel von Mathias Stinnes, am Uhlenhorstweg ein großes Herrenhaus nach englischen Vorbildern. Er gab den Auftrag zum Bau des Hauses an den renommierten Mannheimer Villenarchitekten Rudolf Tillessen. Die Außenfassade ist in einem gemässigten Neobarock gestaltet, während der Grundriss dem englischen Landhaus ähnelt. Das zweigeschossige Gebäude besitzt einen Wohn- und einen etwas niedrigeren Wirtschaftstrakt. An der Vorderseite des Hauses findet sich eine repräsentative Auffahrt, auf der Gartenseite blickt man von einer Terrasse über den großzügigen Garten, eine große baumgesäumte Rasenfläche, der sich im Westen ein Nelken- und ein Rosengarten anschlossen. Auch hier ist der Garten konsequent auf das Haus bezogen. Im Innern zeigt sich ein repräsentatives Raumprogramm, im Erdgeschoss liegen Herrenzimmer, Salon, Musikzimmer und Speisesaal. Seit 1952 war das Haus im Besitz der evangelischen Landeskirche im Rheinland und diente bis 2003 als „Evangelische Akademie“.

Haus Rott – Hugo Stinnes

Das wohl größte Projekt im Mülheimer Wald ist nie realisiert worden. Hugo Stinnes wird schon in den Werbebroschüren der AG als prominenter Nachbar gepriesen. Tatsächlich war der Bau eines Hauses geplant, dessen Dimensionen weit über die anderen Villen im Mülheimer Wald hinausgegangen wäre. Erhalten sind lediglich Fotos eines Modells des Hauses. Sie zeigen eine zweigeschossige, dreiflügelige Anlage, die mehr Ähnlichkeit mit einem Schloss als einem Landhaus hat. Im Sommer 1913 wurde ein Wegenetz angelegt. Auch die Gartengestaltung wurde bereits begonnen und lässt einen an den natürlichen Gegebenheiten orientierten Landschaftspark erkennen. Gartenpläne zeigen zudem einen künstlich angelegten Teich mit einem Teehaus sowie einen Rosengarten. Die Grundsteinlegung war für den 1. August 1914 festgesetzt, der Kriegsausbruch verhinderte aber den Baubeginn. Lediglich zwei Pförtnerhäuser und das Palmenhaus mit Gewächshäusern sind fertig gestellt worden, das Teehaus befand sich noch im Rohbau und wurde später vollendet.

Bedeutung der AG

Der Broich-Speldorfer Wald- und Gartenstadt AG war kein großer Erfolg beschieden. Offenbar zog die Möglichkeit des Lebens in einiger Entfernung von der Stadt auf einem großen, waldreichen Gelände weniger Käufer an, als man erwartet hatte. Erfolgreicher waren dagegen die fast zeitgleich entstandenen Villenviertel am Kahlenberg und vor allem auf der Prinzenhöhe, die eher den Regeln der Villenkolonien folgten und nur relativ kleine Grundstücke boten. Offenbar war den Bauherren die Herauslösung aus der Stadt weniger angenehm, auch die Entfernung kann eine Rolle gespielt haben. Darin kann sogar ein Bekenntnis zur bürgerlichen Gemeinschaft der Stadt gelegen haben. Das Haus in der Stadt war auch ein Zeichen der Einbindung in die städtische Gesellschaft. Auffällig ist, dass sich im Mülheimer Wald mit Fritz Thyssen, Hugo Stinnes und Gerhard Küchen Männer ansiedelten, die in ihrer Bedeutung weit über den „Kaufmann aus Mülheim“, als den Stinnes sich auch in späteren Jahren noch gern bezeichnete, herausgewachsen waren, internationale Großunternehmen führten und auch die Politik prägten. Für Emil Kirdorf gilt dasselbe, er war allerdings der Stadt Mülheim vor dem Bau des Streithofs in keiner besonderen Weise verbunden. Der Kaufmann Hermann Mellinghoff, der zunächst ein Grundstück der AG erworben hatte, verkaufte an Gerhard Küchen und baute ein stattliche „Villa im Park“ am Werdener Weg 4. Die übrigen „Siedler“ waren vor allem Ärzte und sonstige Angehörige des oberen Mittelstandes, die nur kleinere Häuser bauten. Wirtschaftlich erfolgreich war die AG durch die wenigen Grundstücksverkäufe nicht. Sie wurde 1933 aufgelöst. Sie sicherte der Stadt Mülheim und damit allen Bewohnern aber den Wald als „grüne Lunge“ und lies ein bemerkenswertes Ensemble von Villen der Großindustriellen entstehen, deren historische Bedeutung leider noch immer viel zu wenig wahrgenommen wird.

(Beitrag aus: Zeugen der Stadtgeschichte – Baudenkmäler und historische Orte in Mülheim an der Ruhr. Hrsg. vom Geschichtsverein Mülheim an der Ruhr e.V., Klartext Verlag, Essen 2008)

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