von: Günter Fraßunke
Der erste Broicher Pfarrer war Friedrich Habermas (1860-1911) – ein prominenter Name, denn es handelte sich um den Großvater von Professor Jürgen Habermas, „einer der weltweit meistrezipierten Philosophen und Soziologen der Gegenwart“ (Wikipedia).
Aber der Weg von Friedrich Habermas aus dem Dorf Neuenhof bei Eisenach im damaligen Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach (heute Freistaat Thüringen) war nicht einfach. Beschwerlich war auch der Gründungsprozess der evangelischen Gemeinde in Broich, den Habermas einige Jahre begleitete.
In Speldorf und Broich war die Bevölkerungszahl infolge der Industrialisierung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts so stark angewachsen, dass Schritte zur kirchlichen Neuorganisation nötig wurden. So fand für die Christen reformierten Bekenntnisses 1876 in Broich und Speldorf der erste Gottesdienst in der Speldorfer Schule statt, und zwar durch einen Hilfsprediger von der Petrikirche. Saarn war bereits 1844 selbständige Kirchengemeinde. Für die Christen lutherischen Bekenntnisses gab es seit dem 17. Jahrhundert die Paulikirche auf der Delle.
Broich wurde 1878 Amtssitz eines Bürgermeisters. In der „Bürgermeisterei Broich”, wie die Region Speldorf-Broich-Saarn damals hieß, hatten „Lederbarone” und andere Gewerbetreibende das Sagen und offensichtlich den Ehrgeiz, dass die Bürgermeisterei nun sehr schnell auch die kirchliche Eigenständigkeit erhielt.
Es ging nun weiter unter dem Bürgermeister Hauptmann a.D. Ludwig Mentz, der aus dem Großherzogtum Oldenburg stammte:
- Speldorf und Broich wurden 1879 ein Gemeindebezirk der Altstadtgemeinde mit eigenem Pfarrer für die Betreuung von 4500 Gemeindegliedern.
- Nach vier Jahren (1883) wurde mitten in Speldorf die Lutherkirche eingeweiht. Die Broicher hatten einen Standort mehr im Zentrum des Gemeindegebiets nicht durchsetzen können, obwohl hier mehr zentrale Einrichtungen vorhanden waren – das Rathaus, Bahnhof und Postamt.
- Nach weiteren vier Jahren (1887) erhielt Broich-Speldorf seine kirchliche Selbständigkeit als Doppelgemeinde. Das wurde von den Meinungsführern im Broicher Teil der Bürgermeisterei als Kampfansage verstanden.
Sie organisierten eine Abstimmung, um die Abspaltung von der Altstadtgemeinde zu verhindern. Nach dem Scheitern ihres Antrags gründeten 500 Broicher Gemeindeglieder eine freikirchliche Gemeinde, deren Hauptsponsor der Broicher Bürger Ferdinand Roßkothen war. Er richtete zum Gedenken an seine verstorbene Frau Wilhelmine eine Stiftung ein. Er schenkte der Gemeinde ein Grundstück (heute Wilhelminenstraße 7 und 9) und die Mittel für den Bau eines Betsaals und Pfarrhauses (Nutzung bis 1954).
In seinen Lebenserinnerungen schrieb der damalige Presbyter und Lederfabrikant Wilhelm Funcke (1843-1931): „Als Pfarrer gewann der Verein [den in der Sächsischen Landeskirche ordinierten Pfarrer, der Autor] Friedrich Habermas […], welcher bis dahin als Pastor einer freien Gemeinde in Westfalen gewirkt hatte […]. Nach den ausgezeichneten Empfehlungen wurde Herr Pastor Habermas gewählt, und als dieser nach einem Vortrag in einer Versammlung im Stockfischsaale über seinen Glauben und die Auffassung seines Amtes gesprochen hatte, rief einer der Herren in Begeisterung: ‚Das ist der zweite Luther!‘ Jedenfalls hat Herr Pastor Habermas die Obliegenheiten seines Amtes in mustergültiger Weise und segensreich verwaltet und sein Andenken steht in der Gemeinde bei denen, welche seines Wirkens sich noch erinnern, in hohen Ehren. [Gemeindearchiv 230 / 36 + 37]“ Er gründete 1888 die Broicher Frauenhilfe – damals „Frauen- und Jungfrauenverein“. Er gründete auch den Kindergottesdienst, genannt „Sonntagsschule“, zu der sich 150 Kinder versammelten – Tendenz steigend.
Die freikirchliche Zeit endete schon 1890 – in Unfrieden und zu Ungunsten von Friedrich Habermas. Wilhelm Funcke führte dies auf ein Zerwürfnis zwischen dem Gönner der Gemeinde und seinem Angestellten, dem Pfarrer, zurück. Roßkothen habe die Gemeinde gedrängt, bei der Kirchenleitung in Koblenz den Wiedereintritt in die Landeskirche bedingungslos zu beantragen, wozu der Großteil der Freikirchler bereit war. Ihre Bedingung war, ihren geschätzten Pfarrer Habermas zu behalten. Funcke und Roßkothen kehrten aber unverrichteter Dinge aus Koblenz zurück.
„Kurze Zeit nachher erschien dieser [Konsistorialrat Kuttig, der Verfasser] und in einer Sitzung des Presbyteriums in der Wohnung des Herrn Stöcker im Schloss Broich wurden die Verhandlungen an einem Vormittag im Beisein des Herrn Kuttig fortgesetzt. Da aber jede Partei auf ihrem Standpunkt beharrte, verlief auch diese Sitzung ergebnislos, worauf Herr Konsistorialrat Kuttig den Wunsch äußerte mit Pastor Habermas persönlich sich zu benehmen und am Nachmittag eine weitere Aussprache mit der Kirchenvertretung […] zu haben, zu welcher auch Pastor Habermas erschien, nachdem die Besprechung der beiden Herren am Vormittag stattgefunden hatte. Wie sich aus den Mitteilungen des Herrn Pastor Habermas ergab, waren seitens des Herrn Kuttig diesem Versprechungen dahingehend gemacht, dass er Gelegenheit haben sollte, durch die Unterziehung eines Kolloquiums in den preußischen Landeskirchenverband aufgenommen zu werden und dadurch die Aufnahme und Anstellungsbefähigung als Pfarrer in Preußen zu erlangen. Durch die so getroffene Abmachung und das Ausscheiden von Pastor Habermas wurde die moralische Verpflichtung unserer freien Gemeinde ihm gegenüber gelöst und der Wiedereintritt in die Landeskirche beschlossen.“ –
Übrigens wurde Friedrich Habermas nicht in den Dienst der Landeskirche übernommen, sondern hatte sich bereits 1889 nach Lüdenscheid orientiert, wo er in den Dienst der freikirchlichen Gemeinde Oberrahmede trat, in der er 1890 seiner Ehefrau Katharina Unterhössel aus Broich das Ja-Wort gab. Die Gemeinde schloss sich 1894 der Landeskirche an. Habermas wurde jedoch nicht arbeitslos, sondern leitete bis zu seinem Tod (1911) mehrere Einrichtungen für die Ausbildung von Volksschullehrerinnen und -lehrern (Lehrerseminare).
Friedrich Habermas‘ Enkel Jürgen Habermas charakterisiert seinen „Großvater, der im Ruf eines etwas cholerischen, sehr eigensinnigen Mannes stand, einst mit seiner ganzen Gemeinde wegen Auseinandersetzungen um einen Kirchenbau aus der Landeskirche ausgetreten war, dadurch seine Pensionsansprüche verloren hatte und schließlich nach der Rückkehr der Gemeinde in den Schoß der Landeskirche … Seminardirektor … geworden war. Also meine Großmutter hatte nie viel Geld. Sie ließen dann junge Vikare bei sich wohnen, um an ein bißchen zusätzliches Geld zu kommen. Da gibt es dann diese Familienstories, dass diese jungen Leute zuviel aßen. Dann hieß es: Herr Vikar, meine Frau und ich sind fertig, wollen Sie noch etwas?“ [zitiert nach Monographie Jürgen Habermas – dargestellt von Rolf Wiggershaus]
Die landeskirchliche Gemeinde Broich wurde 1890 selbständig und weihte nach dreijähriger Bauzeit am 17. März 1901 ihre im neugotischen Stil erbaute Kirche ein, die mit heimischem Ruhrsandstein des nahegelegenen Steinbruchs verblendet ist. Über einen Namen hatte man sich damals – nach der Überwindung des Betsaal-Provisoriums – keine Gedanken gemacht; und so wurde sie schlicht die Kirche an der Wilhelminenstraße – auch liebevoll als „Wilhelmine“ bezeichnet.