Mülheimer Innenstadt 1952, Quelle: Geschichtsverein Mülheim an der Ruhr e.V.

Von: Franz Firla

Zu meiner Zeit

[Anm. d. Red.: Wir empfehlen das Abspielen des eingebetteten Podcasts mit dem „Play“-Button ▶️ zu starten, und dann gleichzeitig die Übersetzung im vorliegenden Beitrag mitzulesen.
Viel Vergnügen!]

Auf dem Dickswall ist heute ein Fest
So wie lange keins mehr gewesen.
Ist doch heute der alte Boode
Wahrhaftig hundert Jahr geworden.
Er ist noch recht gut beieinander
Und wie man sagt: flott auf den Beinen.
Auch mochte er wohl noch seinen Tropfen.
Hat er sich mal einen Schnaps getrunken,
das Gläschen wohl kein bisschen bebte,
wer weiß, wie lang er denn noch lebte?
Ein Jahr oder zehn konnte er wohl hoffen,
wo er doch so klar im Kopfe.

Nun ist er hundert Jahre alt.
Er hat seine Jahre nicht gezählt,
aber Schulmeister und der Pastor,
die sagen beide, dass es so war,
im Kirchenbuche stünde es drin
und darum sollte es wohl so sein.
Auch hat der Schulmeister gesagt:
Das wär für ihn ein hoher Tag,
der wär sehr selten auf der Erde,
der müsste feierlich begangen werden.

Und ob der feierlich begangen wurde!
Ganz früh schon hat es angefangen.
Er hört, von seinem Bett aus, dass unten,
vor dem Fenster schon viele Menschen stehen.
Nun klang es hell, im frohen Klang,
von Kinderstimmen, ein Gesang
zum Fenster rauf, im Morgenlicht:
„Großer Gott wir loben dich!“

Und dann kam alles auf einen Haufen.
Den ganzen Tag ist es gelaufen,
um zu dem Fest zu gratulieren
und auch ein bisschen mitzufeiern.
Der Schulmeister, auch der Pastor,
der Bürgermeister kommt recht früh,
in steifem Hut und schwarzem Rocke
um zehn Uhr herangezogen,
und bringt auf einem beschriebenen Blatt
den Glückwunsch von der ganzen Stadt.
Dann kommen von den Zeitungen
auch noch ein paar hereingesprungen,
um ihm was in das Ohr zu tuten,
die hatten sehr viel zu reden.
Sie fragten dies, sie fragten das,
was er wohl sonst getrieben hat,
wie es wohl käm, dass Hinnerk Bode
so einfach hundert Jahr geworden,
wie es wohl käm, dass sich der Alte
so hundert Jahr hat frisch gehalten,
und ob er ohne Brille könnte lesen,
und wie’s zu seiner Zeit gewesen
ob er davon noch etwas wüsste,
oder, – ob er viel davon vergessen,
er solle doch mal, aus seinem Leben,
ein bisschen was zum Besten geben.

Da richtete der Alte sich gerade auf,
hat sich seine Pfeife frisch gestopft
und sagt dann, mit der größten Ruhe:
„Sehr gerne auch, – Nun hört mal zu!
„Zu meiner Zeit“, sagt Hinnerk Boode:
„Hatte alle noch das rechte Maß,
ging alles seine geregelten Wege,
betrachte ich mir heute dagegen,
das neumodische, verrückte Leben,
was von den Menschen betrieben wird,
dann soll man es nicht für möglich halten,
das ist wohl nichts mehr für uns Alte.
Wenn man hört, wie sie alle lügen,
sich gegenseitig bloß betrügen,
dann soll man sagen weit und breit,
glaubt keiner mehr an Ehrlichkeit.
Das, was uns Alten recht und gut,
das weren sie heute weit fort.
Das, was zu meiner Zeit in Ehren,
will man, heute nichts mehr von hören.
Gewiss, – was gut ist an dem Neuen,
da kann man sich wohl auch dran freuen,
nur soll man dem derben Alten
ein bisschen auch die Treue halten.
Schaut euch mal die Frauen an! –
Die kommen wochentags an,
geradeso wie die vornehmsten Kaufmannsleute
und laufen nur in Samt und Seide,
als wenn sie schon wunders was wären.
Unsere Weiber trugen derbe Kleidung.
Da sah man nicht von oben hui,
von unten aber nur bloß pfui,
im Schürzentuch sah man sie gehen.
Die hatten auch genug zu tun.
Wenn sie heute so hart arbeiten müssten,
und hätten erstmal ein Dutzend Kinder,
von früh bis spät flitzen müssten,
dann verging ihnen ihr Übermut.

Und essen tun sie sich nur halbsatt,
und können es dann nicht begreifen,
wenn sie frühzeitig schon umkippen.

Zu meiner Zeit, da aß man gut,
so wie es kam, von Grund auf
und meist aus einer einzigen Schüssel.
Zu meiner Zeit lief man auf Klumpen.
Unsere Kleidung war stark und derb,
so wie das Essen gut und kräftig,
wir Männer im blauen Arbeitskittel,
die Frauen, in bedrucktem Baumwollstoff,
die Kinder konnte man meist finden
im Sommer auf nackten Beinen.

Zu meiner Zeit haben unsere Kinder
Ganz andere Namen auch getragen.
Da rief man: Hennes, Chuus und Stinna,
oder Drüttsche, Jan, Katrin und Minna,
heute hört man nur: Marlene,
oder Dieter, Adi, auch Irene.
Die alten Namen sind zu grob,
sind für die Affen nicht mehr gut,
zu meiner Zeit, ganz ohne Scheu,
sagte man dafür: – Narretei!
Es ist nicht mehr so nett wie sonst,
die Menschen sind viel zu nervös.
Zu meiner Zeit, da war im Land,
das Wort „nervös“ ganz unbekannt.
Wie soll auf so einer verrückten Erde
Noch jemand hundert Jahre werden?
Ich hab mich niemals aufgeregt,
drum schlief ich auch niemals schlecht.
Ich hab im Leben gut gegessen,
dabei das Trinken nicht vergessen,
gearbeitet hab ich immer hart,
darum wurde ich auch immer satt.
In Maßen alles mitgenommen,
bin ich im Alter angekommen.
Die Füße warm, am Kopfe kalt,
so wurde ich hundert Jahre alt.

Gut möglich, dass er sich das nur ausgedacht hat, unser Heimatlyriker Hardering. Vielleicht nimmt er hier aber auch den 100. Geburtstag eines Mülheimers zum Anlass für etwas Zeitkritik, wie er es in den 1950er Jahren regelmäßig in seiner NRZ-Plattkolumne „Wat che-iht i’Mölm vüar?“ veranstaltete. Die doofe Standard-Interviewfrage der Reporter kontert der Jubilar geschickt mit einer Abrechnung mit all dem, was ihm gegen den Strich geht. Sicher, dass wir hier nicht einen vertrottelten Alten, sondern einen mit Schalk im Nacken vor uns haben, dürfen wir sein, weil Hardering das ziemlich lange Gedicht in Finnich-Teil seines Gedichtbandes gepackt hat. Dort hat er alle versammelt, die es faustdick hinter den Ohren haben, ständig auf Schabernack aus sind und keinesfalls den Leuten nach dem Mund reden. Wenn er tatsächlich eine bestimmte Person gemeint hat, dann dürfte diese um 1850 herum das Licht der Mülheimer Welt erblickt haben.

Das Gedicht hat im Original den Titel „Tu miner Tied“.

Quelle: Chird Hardering: „Innich, Ssinnich, Finnich“ , 1954, Seite 114

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