von: Jens Roepstorff
Am 27. Februar 1900 wurde Valentin Tomberg als Sohn estländischer Eltern in Sankt Petersburg, Russland, geboren und evangelisch-lutherisch getauft. Sein Vater Arnold Tomberg, ein Beamter des Innenministeriums schwedischer Abstammung, ermöglichte ihm den Besuch der Petrischule, einer renommierten Petersburger Lehranstalt mit humanistischer Ausrichtung. Er kam dort in den Genuss einer exzellenten Schulbildung, lernte früh Latein, Griechisch und Deutsch, später auch Englisch und Französisch. Im Alter von 14 Jahren wurde der junge Tomberg in seiner evangelischen Heimatgemeinde konfirmiert, begann aber bald, sich auch mit anderen geistigen und religiösen Strömungen auseinanderzusetzen. So beschäftigte er sich mit dem Gedankengut der russisch-orthodoxen Kirche und machte Bekanntschaft mit den Schriften Rudolf Steiners, des Begründers der Anthroposophie. Fortan war er ein glühender Anhänger Steiners und seines geisteswissenschaftlichen Werks.
Flucht aus Russland
Nach dem erfolgreichen Abschluss der Schule immatrikulierte sich Tomberg 1917 an der Universität von Sankt Petersburg. Die Oktoberrevolution brach aus und verbreitete sich von Petersburg über Moskau bis hinein ins russische Hinterland. In einem mehrjährigen Bürgerkrieg kämpften revolutionäre Rotgardisten gegen zarentreue Weißgardisten. Valentin Tomberg flüchtete 1919 vor den Kriegswirren ins Heimatland seiner Eltern, nach Estland. Seine Mutter Juliana, die ihn auf seiner Flucht begleitete, wurde unterwegs von Rotgardisten getötet: für den Sohn ein erschütterndes und einschneidendes Erlebnis. In Estland angekommen, finanzierte er seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsarbeiten und beschäftigte sich im Abendstudium mit Religion, Philosophie und verschiedenen Sprachen. Außerdem arbeitete er für den Tallinner Zweig der Anthroposophischen Gesellschaft, wurde 1926 mit Leitungsaufgaben betraut und veröffentlichte ab den frühen 1930er Jahren regelmäßig Aufsätze in anthroposophischen Zeitschriften. Mit Marie Steiner, der Witwe Rudolf Steiners, stand Tomberg in persönlichem Kontakt. 1933 heiratete er Maria Belozwetow, die seit einigen Jahren seine enge Mitarbeiterin und Vertraute war. Am 31. August 1933 kam ihr Sohn Alex zur Welt.
Im Diplomatischen Dienst
Auch beruflich konsolidierte sich Tomberg: Aus dem Gelegenheitsarbeiter wurde ein Sekretär des estnischen Außenministers. 1923 trat er in den Dienst des estnischen Post- und Telegrafenamtes, wo ihm später, nach Bestehen der juristischen Staatsprüfung, der Direktorposten des internationalen Telefondienstes zugewiesen wurde. 1938 bot ihm sein ehemaliger Arbeitgeber, das Außenministerium, die Geschäftsführung des neueingerichteten estnischen Konsulats in Amsterdam an. Tomberg akzeptierte und siedelte noch im gleichen Jahr mit Frau und Kind in die Niederlande über. Die Tätigkeit in Amsterdam sollte jedoch nicht von langer Dauer sein. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs und der Besetzung des Baltikums durch sowjetische Truppen im Jahre 1940 hörte Estland auf, als unabhängiger Staat zu existieren. Die Familie Tomberg wurde staatenlos, Valentin Tomberg arbeitslos.
Die Kölner Zeit
Professor Ernst von Hippel, ein namhafter Rechtswissenschaftler an der Universität Köln, der Tomberg schon seit längerem freundschaftlich verbunden war, erfuhr von den Existenznöten seines Freundes und bemühte sich, für diesen in Köln eine Arbeitserlaubnis zu erwirken. Im Februar 1944 konnte Tomberg schließlich mit amtlicher Genehmigung nach Deutschland übersiedeln, um als „Aushilfsangestellter“ beim Kriegsschädenamt der Stadt Köln eine Stelle anzutreten. Gleichzeitig wurde Valentin Tomberg auf Betreiben von Hippel als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Völkerrecht der Universität Köln eingestellt. Dort promovierte er im November 1944 zum Doktor der Rechte mit einer Arbeit, die den Titel trug „Degeneration und Regeneration der Rechtswissenschaft“. Im Hause der Familie Hippel in Bad Godesberg fanden die Tombergs ebenso wie andere befreundete Flüchtlinge freundliche Aufnahme.
Das Kriegsende 1945 und der Einmarsch alliierter Truppen in Köln brachte neue Aufgaben für Valentin Tomberg. Auffanglager für DPs (displaced persons) wurden eingerichtet mit dem Ziel, ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aufzunehmen und die Heimkehr ins jeweilige Heimatland zu organisieren. Aufgrund seiner umfangreichen Fremdsprachenkenntnisse – er sprach Russisch, Estnisch, Lettisch, Holländisch, Englisch, Französisch und Deutsch – wurde Valentin Tomberg im Juni 1945 von den britischen Befehlshabern als Dolmetscher verpflichtet und im DP-Lager Köln-Ossendorf eingesetzt.
Die Anfänge in Mülheim
Wann genau und warum Tomberg seine Arbeit in Köln beendete und nach Mülheim an der Ruhr versetzt wurde, bleibt im Unklaren. Vermutlich war die Abwicklung in den Kölner DP-Lagern weitgehend abgeschlossen, während sie in den Mülheimer Lagern noch anstand. Ab dem Jahresende 1945 lassen sich Tombergs Spuren in Mülheim an der Ruhr nachweisen. Mit den Einwohnern der Stadt kam er zunächst kaum in Berührung. Es galt das von den Alliierten festgesetzte Fraternisierungsverbot, das engere Kontakte zwischen Deutschen und britischer Besatzungsmacht unterbinden sollte. Schon das bloße Händeschütteln war problematisch, ebenso wie das Ansprechen junger deutscher Frauen auf der Straße. Letzteres wurde mit empfindlichen Geldbußen geahndet. Als ausländischer Akademiker in Diensten der britischen Streitkräfte erhielt Tomberg den Rang eines Offiziers sowie eine entsprechende Uniform. Beides kennzeichnete ihn nach außen hin als Engländer, auch wenn er eigentlich Este und nach der sowjetischen Annexion seines Heimatlandes staatenlos war. Von den Mülheimern wurde er jedoch als britischer Offizier wahrgenommen und dementsprechend mit respektvoller Distanz behandelt. Als Unterkunft diente den Tombergs ein konfisziertes Haus in der Weißenburger Straße 17, was ihnen wegen der Ausquartierung der deutschen Eigentümer äußerst unangenehm war.
Valentin Tomberg wurde in Mülheim wie schon zuvor in Köln als Dolmetscher für die osteuropäischen Insassen der DP-Lager eingesetzt. Dabei arbeitete er intensiv zusammen mit Francis Collin, einem Offizier der britischen Royal Army. Über die Terrorherrschaft Stalins in der Sowjetunion und die Lebensbedingungen unter dem Bolschewismus war zu diesem Zeitpunkt im Westen nicht viel bekannt. In seinen Gesprächen mit den Lagerinsassen fand Tomberg vieles von dem bestätigt, was er aus eigener Anschauung von früher bereits kannte. Ihm wurde klar, dass die Rückkehr der russischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter in ihr Heimatland nicht immer nur mit Freude, sondern auch mit Gefühlen größter Verunsicherung und Zukunftsangst verbunden war. Tomberg – selbst in Russland aufgewachsen und russisch geprägt – belastete dies sehr.
Zu den seelischen Belastungen, die seine Arbeit mit sich brachte, kamen ganz praktische Nöte hinzu. Die deutsche Bevölkerung litt unter den Auswirkungen des verlorenen Krieges; die Ernährungslage war zeitweilig dramatisch. Trotz Unterstützung durch die britische Besatzungsmacht litten auch die Tombergs unter den Versorgungsengpässen – bisweilen nicht ganz unverschuldet, da insbesondere Valentin Tomberg nicht selten für die notleidenden Insassen der DP-Lager buchstäblich sein letztes Hemd opferte. Die Tochter seines Freundes Ernst von Hippel wohnte mittlerweile im Hause Tomberg und trug durch den Verkauf von Büchern aus ihrem Privatbesitz dazu bei, dass die Familie auf dem Schwarzmarkt das Notwendigste kaufen konnte.
Die Reeducation
Da Tomberg neben Russisch auch schon früh die deutsche Sprache erlernt hatte und diese hervorragend beherrschte, übernahm er für den stellvertretenden Mülheimer Stadtkommandanten William („Billy“) Reynolds Dolmetscheraufgaben. Zudem sollte Tomberg auf Wunsch von Reynolds in die Umerziehungsmaßnahmen der Engländer, die sogenannte „reeducation“, miteinbezogen werden. Diese Maßnahmen zielten auf die demokratische Neuorientierung („reorientation“) der deutschen Bevölkerung und bezogen sich somit im Wesentlichen auf das Schul- und Bildungswesen. Geplant war in Mülheim die Einführung von sogenannten „Hochschulkursen“ sowie die Wiederbelebung der 1919 gegründeten Volkshochschule.
Tomberg wurde mit dieser Aufgabe beauftragt. Er stimmte seine Ideen mit Reynolds ab und erhielt darüber hinaus Unterstützung von zwei weiteren Mitstreitern: William („Bill“) Roach und Edwin Hasenjaeger. Major Bill Roach, der Mülheimer Kulturbeauftragte der britischen Militärregierung, gehörte zu den Befreiern des Konzentrationslagers Bergen-Belsen und hatte somit die katastrophalen Auswirkungen der nationalsozialistischen Ideologie hautnah erlebt. Jetzt bekam er die Gelegenheit, an der „reeducation“ der Deutschen mitzuwirken und den Boden zu bereiten für eine demokratische Gesellschaft. Der zweite Mitstreiter Tombergs war der Mülheimer Oberbürgermeister Edwin Hasenjaeger, der nach einer kurzen Phase der Internierung von den Alliierten als unbelastet eingestuft und wieder ins Amt eingesetzt worden war. Noch vor dem Krieg hatte Hasenjaeger eine wissenschaftliche Vortragsreihe ins Leben gerufen, zu der er namhafte Geistesgrößen wie Werner Heisenberg, Max Planck oder Carl Friedrich von Weizsäcker nach Mülheim eingeladen hatte. Seine Kontakte zu den Professoren der unterschiedlichsten Fachrichtungen hatte er auch während des Krieges in einem regelmäßigen Briefwechsel gepflegt. Bei der Gewinnung von Referenten sollten sich diese Verbindungen für Tomberg bald als äußerst nützlich erweisen.
Hochschulkurse
Im März 1946 begannen die geplanten Hochschulkurse mit dem Ziel, den Mülheimern Begriffe wie Demokratie und Völkerrecht näherzubringen. Tomberg beschloss, selbst eine Vortragsreihe zum Völkerrecht anzubieten. Seine Antrittsvorlesung mit dem Titel „Begriff, Idee und Ideal des Völkerrechts“ hielt er am 19. März im Saal des Josefshauses an der Dimbeck. Als ein weiterer Dozent wurde von der Universität Köln der Tomberg-Freund und Völkerrechtler Professor Ernst von Hippel verpflichtet, der eine Serie von insgesamt 12 Vorträgen über die Verfassungen und den Staatsgedanken der drei westlichen Demokratien (England, Frankreich, Vereinigte Staaten) anbot.
Der Mülheimer Oberbürgermeister Hasenjaeger bemühte sich, eine Vortragsreihe mit naturwissenschaftlichen Themen unter Einbindung des bekannten Physikers Carl Friedrich von Weizsäcker zu organisieren, musste jedoch feststellen, dass die Militärregierung eine derartige inhaltliche Ausrichtung nicht wünschte. Der Einladung an den Münsteraner Religionsphilosophen Professor Heinrich Scholz – ein guter Freund Hasenjaegers – stand man dagegen wohlwollend gegenüber. Als Hasenjaeger Ende April auf eigenen Wunsch aus dem Amt des Oberbürgermeisters ausschied, brachte er die zusammen mit Tomberg geplanten Vorträge noch zum Abschluss. So begrüßten beide am 29. April den evangelischen Landesbischof Stählin als Gastredner in Mülheim und am 3. Juli Professor Carl Friedrich von Weizsäcker, trotz des ursprünglichen Widerstands von britischer Seite. Das Ausscheiden Hasenjaegers und das Wegbrechen der von ihm initiierten Kontakte erschwerten die weitere Arbeit Tombergs erheblich.
Die Mülheimer Volkshochschule
Parallel zu den Hochschulkursen kam es am 24. Juni 1946 zur Wiederbegründung der Mülheimer Volkshochschule. Arbeitsvorgaben und Festlegung der Ziele lagen beim Kulturbeauftragten der Militärregierung Major Bill Roach, Organisation und Durchführung dagegen bei Valentin Tomberg. Das Spektrum der angebotenen Kurse war breitgefächert: Kunst, Literatur, Psychologie, Religion, Philosophie, Geschichte, Recht, Naturwissenschaften, Fremdsprachen. Auch das Basteln von Spielzeug war im Programm, angeboten von Professor von Hippels Tochter Ursula, die eine Ausbildung zur Kindergärtnerin abgeschlossen hatte und bei den Tombergs wohnte.
Tomberg selbst bot zunächst eine Einführung in Goethes „Faust“ an, in einem späteren Trimester dann eine Vortragsreihe über Dostojewskis „Brüder Karamasow“. Neben der Suche nach geeigneten Themen und Referenten oblag ihm auch die Verwaltung der Volkshochschule. Letzteres war für den zurückhaltenden, sehr vergeistigten und etwas weltfremden Tomberg eine unangenehme Pflicht, die er nur sehr eingeschränkt erfüllte. Die deutschen Mitarbeiter Tombergs hatten somit im organisatorischen Bereich eigene gestalterische Freiräume, die sie zu schätzen wussten.
Tombergs Wirken in Mülheim machte ihn über die Stadtgrenzen hinaus bekannt und brachte ihm zunehmend Vortragsanfragen aus anderen Städten ein. Die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule (RWTH) in Aachen bot ihm im Herbst 1946 gar einen Lehrauftrag für „Ethik und Recht“ an. Tomberg nahm an und pendelte fortan zwischen Aachen und Mülheim, wo er weiterhin den Aufbau der Volkshochschule vorantrieb.
Mit Pfarrer Heinrichsbauer, der die für Tombergs Wohnbezirk zuständige Gemeinde Sankt Marien leitete, verband ihn eine tiefe Freundschaft. Tombergs bereits 1942 erfolgter Übertritt zum Katholizismus ließ ihn vermutlich des öfteren das Gespräch mit dem hochgebildeten und von ihm hochgeschätzten Geistlichen suchen. In das katholische Gemeindeleben integrierte sich Tomberg jedoch aufgrund seiner stark introvertiert orientierten Persönlichkeit nicht.
Weggang aus Deutschland
Im März 1948 entschied sich Valentin Tomberg überraschend, Deutschland den Rücken zu kehren und nach England zu gehen. Die Erfolge der letzten Jahre – der Aufbau der Mülheimer Volkshochschule, der Lehrauftrag in Aachen, zwei Buchveröffentlichungen sowie eine bereits fortgeschrittene Habilitationsschrift – konnten ihn nicht halten. Die Gründe für seine Entscheidung sind nicht ganz klar. Womöglich erschien Tomberg die Kluft zwischen Einheimischen und Ausländern in Deutschland zu groß. Er befürchtete wohl, als Nicht-Deutscher keine Chance auf eine feste Anstellung zu haben, wenn die britische Besatzungsmacht eines Tages nicht mehr präsent wäre. Die Aussicht auf eine Hochschulkarriere wäre für einen Staatenlosen in britischen Diensten gegenüber den zurückflutenden deutschen Kriegsheimkehrern vermutlich nicht die beste gewesen. Auch die bevorstehende Ablösung seiner beiden größten Förderer auf britischer Seite, Major William Roach und Major William Reynolds, könnte eine Rolle gespielt haben. Darüber hinaus wollte er für seinen Sohn Alex eine optimale Schulbildung, die er dem deutschen Bildungssystem, das sich nach dem Ende des Nationalsozialismus in einer Phase der Neuorientierung befand, nicht zutraute.
Am 22. Juli 1948 siedelte Tomberg nach London über und bekam im darauffolgenden Jahr eine Übersetzerstelle bei der BBC. Sein Sohn Alex besuchte eine britische Schule, machte seinen Abschluss und nahm 1952 ein Studium in Cambridge auf. Im gleichen Jahr erhielt das bis dahin immer noch staatenlose Ehepaar Tomberg die britische Staatsbürgerschaft. 1962 wurde Valentin Tomberg offiziell pensioniert, stellte seine Arbeitskraft der BBC aber noch zwei weitere Jahre zur Verfügung. Vortrags- und Privatreisen führten ihn immer wieder nach Deutschland und auch in die Niederlande, wo seit 1963 sein Sohn Alex mit der eigenen Familie lebte. Während eines Urlaubsaufenthalts auf Mallorca Anfang 1973 erlitt Valentin Tomberg eine Gehirnembolie und verstarb wenige Tage später am 24. Februar 1973. Maria Tomberg, zeitgleich von einem Gehirnschlag betroffen, erlebte noch die Beisetzung ihres Mannes auf Mallorca. Trotz eines eiligen Krankentransports an ihren Wohnort Caversham, England, war auch ihr Leben nicht mehr zu retten. Sie verstarb kurz nach ihrem Mann am 22. März des gleichen Jahres.