Wie aus Feinden Freunde wurden: vor 70 Jahren wurden Darlington und Mülheim Partnerstädte

Prinzessin Anne begrüßt eine Besucherdelegation aus Mülheim (1970), Quelle: Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr

Von: Thomas Emons

„Warum braucht man Städtepartnerschaften, um gemeinsam mit anderen ins europäische Ausland zu reisen?“ Solche oder ähnliche Fragen hört der Vorsitzende des 1995 gegründeten Fördervereins Mülheimer Städtepartnerschaften, Dr. Gerhard Ribbrock, öfter. Diese vor allem von jungen Menschen gestellte Frage beantwortet Ribbrock immer wieder mit dem Hinweis darauf, dass die Mülheimer Städtepartnerschaften mit Darlington, Tours, Kouvola, Oppeln, Kfar Saba und Beykoz keine touristischen Sightseeing-Agenturen, sondern bürgerschaftliche 1:1-Begegnungen und damit praktizierte Völkerverständigung darstellen.

Mülheims Weg nach Europa

Dieser Kern der internationalen Städtepartnerschaften wird besonders deutlich, wenn man auf die Anfänge der Städtepartnerschaft zwischen Mülheim und Darlington schaut. Acht Jahre nach Kriegsende und zehn Jahre nach dem verheerendsten britischen Luftangriff auf unsere Stadt begegneten sich junge Menschen aus Darlington und Mülheim während ihrer Sommerferien für jeweils zwei Wochen als Gäste und Gastgeber in Mülheim und in Darlington.

Die Bundesrepublik Deutschland war damals ein politisch nur eingeschränkt souveräner und von westalliierten Soldaten besetzter westdeutscher Teilstaat. Dort, wo sich heute der Wohnpark Witthausbusch erstreckt, waren zwischen 1945 und 1994 Soldaten der britischen Rheinarmee in den Wrexham Barracks stationiert. Der William-Shakespeare-Ring, die Oxforder- und die Liverpoolstraße erinnern bis heute an diesen Teil der Mülheimer Nachkriegsgeschichte.

1953 war die westeuropäische Montanunion gerade erst gegründet worden und die Gründung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft noch nicht absehbar. In diesem Jahr wurden Mülheims Straßen von der Stadtverwaltung für „trümmerfrei“ erklärt. Doch die Folgen der NS-Diktatur und des von ihr 1939 entfesselten Angriffskrieges waren immer noch allgegenwärtig sichtbar und spürbar. Wer als Deutscher 1953 ins westeuropäische Ausland reiste, traf dort auf Menschen, die zehn Jahre zuvor unter einem deutschen Besatzungs- und Terrorregime und unter deutschen Luftangriffen hatten leiden müssen. Wenn man denn als westdeutscher Tourist 1953 überhaupt die Möglichkeit hatte, zum Beispiel nach Frankreich, England, in die Niederlande oder nach Belgien reisen zu können, musste man damit rechnen, auf der Straße beschimpft oder bespuckt zu werden, in Geschäften und Restaurant nicht bedient zu werden und in Hotels kein Zimmer zu bekommen.

Junge Eisbrecher

Im August 1953 begegneten sich jeweils 20 Jugendliche aus Mülheim und Darlington bei einer insgesamt vierwöchigen Sommerferienfreizeit dieseits und jenseits der Ärmelkanals. Die Weichen dafür stellten 1952 der spätere Stadtdirektor Darlingtons, Nicolson, die spätere Darlingtoner Bürgermeisterin Sheila Stower, die Darlingtoner Lehrerin Richmond  und der Mülheimer Jugendamtsleiter Reimer.

Die sich begegnenden Jugendlichen waren damals zwischen 16 und 18 Jahren jung. Sie waren also im Krieg aufgewachsen, aber nicht mehr als Soldaten am Krieg beteiligt gewesen. In einem Verwaltungsbericht schrieb Jugendamtsleiter Reimer über das Ziel der ersten deutsch-englischen Jugendbegegnung, der viele weitere folgen sollten: „Die Absicht, in England wie in Deutschland, ist es, allen beteiligten Jugendlichen Einsicht in Art und Wesen der Bevölkerung und in die Struktur des Landes zu vermitteln sowie bei ihnen Verständnis für die Eigenarten des Gastlandes zu wecken und zu festigen. Das wird durch den vierwöchigen Aufenthalt in englischen und deutschen Familien, aber auch mit Besichtigung der heimischen Industrie und durch Wanderfahrten in die Umgebung erreicht.“


Der Mülheimer Jugendamtsleiter Reimer auf Tour mit einer deutsch-englischen Jugendgruppe (o.D.), Quelle: Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr

Die Stadtspitzen kamen später

Es überrascht nicht, dass sich die Stadtspitzen aus Mülheim und Darlington, die den Krieg ja schon als erwachsene Zivilisten und Soldaten miterlebt hatten, sich erst 1957 und 1958 zum ersten Mal begegneten. 1957 waren Darlingtons Verwaltungschef Hopkins und dessen damaliger Bürgermeister Buckborough zu Gast in Mülheim. 1958 erwiderten der Mülheimer Beigeordnete Wittkugel, Bürgermeister Jutzi und Mülheims Bundestagsabgeordneter Otto Striebeck ihren Besuch mit einer Visite in Darlington. Hopkins und Buckborough trugen sich als erste Stadtspitzen Darlingtons in das Goldene Buch der Stadt Mülheim an der Ruhr ein. Ihre Nachfolger Alan Cottan, Alex Porter, Eric Jackson, Sheila Stower und Harry Rogers sollten es ihnen gleichtun.

Bürgermeister Alan Cottan sagte bei seinem Mülheim-Besuch 1961: „Im Ersten Weltkrieg wurde gesagt, dass die Deutschen und die Engländer zusammen mit ihren Waffen die gesamte Welt bezwingen könnten. Heute können Deutschland und England die gesamte Welt mit ihrer Freundschaft im besten Sinne des Wortes bezwingen. Auch ich selbst habe es als Gastvater eines deutschen Schülers nach dem Krieg erlebt. Die Freundschaft und Liebe, die durch unsere Jugendbegegnung entstanden sind, haben das Gefühl des Hasses überwunden, so dass ich die Deutschen heute bewundern kann.“ Und Cottans Nachfolger Alex Porter stellte bei seinem Mülheim-Besuch 1968 fest: „Mülheim hat Darlington seine Hand entgegengestreckt. Und wir haben Sie aufrichtigen und offenen Herzens ergriffen. Das dadurch entstandene neue Gefühl der Brüderlichkeit sollte erhalten bleiben!“  Heute wissen wir, dass sein Wunsch, dem Brexit zum Trotz, in Erfüllung gegangen ist. Dass sich die Darlingtoner Stadtspitzen, anders als etwa der Tourainer Langzeit-Bürgermeister Jean Royer, nicht im kollektiven Gedächtnis unserer Stadtgesellschaft verankern konnten, ist ein Ergebnis der englischen Kommunalverfassung, die einen regelmäßigen Amtswechsel an der Spitze von Rat, Stadt und Verwaltung vorsieht.

Bürgerschaftliche Völkerverständigung

Neben den Jungen und Mädchen gehörte damals auch der Saarner Pfarrer Ewald Luhr zu den Mülheimer Pionieren der deutsch-britischen Völkerverständigung. Nach dem Krieg hatte er als Seelsorger im englischen Halstead in der Grafschaft Essex deutsche Kriegsgefangene betreut. Daraus erwuchs ein erster Kontakt zwischen den Menschen in Halstead und den Mitgliedern der von Pastor Luhr geleiteten Evangelischen Kirchengemeinde Saarn. 19 Jahre später sollte Luhr zum Wegbereiter der deutsch-finnischen Städtepartnerschaft zwischen Mülheim und Kuusankoski werden, das heute Teil der Gemeinde Kouvola ist.

Spiegelbild der Nachkriegszeit

Beispielhaft sei hier ein Bericht der Mülheimer Lokalpresse vom 4. August 1960 zitiert, in dem es heißt: „Darlingtoner sind begeistert: Gastfreundschaft beeindruckt!  – Ich hoffe, dass Sie unsere Stadt und unser Land in der Woche ihrer Hinreise schon gut kennengelernt und die Menschen liebgewonnen haben‘, begrüßte Oberbürgermeister Heinrich Thöne gestern Morgen die jungen englischen Gäste aus Darlington im Mülheimer Rathaus. Zum siebten Male besucht sich die Jugend aus Darlington und Mülheim gegenseitig, um Bande der Freundschaft nach den unseligen Jahren eines sinnlosen Krieges zu knüpfen. Seit Dienstag voriger Woche haben die Engländer, neun Jungen und neun Mädchen, Gelegenheit gehabt, Mülheim an der Ruhr und das Sauerland kennenzulernen. Weitere Fahrten sind zum Rhein und in die Eifel vorgesehen. Mülheimer Werke wurden besichtigt und in den freien Stunden saßen Gasteltern und Gäste im Kreis der Familie zusammen. ‚Wahrscheinlich ist es die Gastfreundschaft, die uns in diesen Tagen am tiefsten beeindruckt‘, meinten Mr. und Mrs. Allen. Das Lehrerpaar betreut die englische Besuchergruppe der 18 Jungen und Mädchen aus Darlington. Im weiten Rund standen gestern Morgen in der Rathausbücherei die Darlingtoner Gäste mit den Mülheimer Schülerinnen und Schülern, in deren Familien sie aufgenommen wurden und die am nächsten Dienstag zum Gegenbesuch mit nach England fahren. Oberbürgermeister Thöne erzählte ihnen, von Stadtinspektor Bernd Fabry als Dolmetscher unterstützt, wie der Jugendaustausch zwischen Darlington und Mülheim im Jahre 1952 zustande kam. ‚Es ist schon eine gute Gepflogenheit geworden, dass die Jugend sich alljährlich über die Grenzen hinweg die Hände reicht. So wird der Kreis der Menschen, die sich in Freundschaft kennen und schätzen lernen, immer größer. Und das Verstehen von Land und Leuten wird immer tiefer,‘ erklärte Oberbürgermeister Thöne den jungen Menschen den tieferen Sinn ihrer Austauschaktion. ‚Ich bin überzeugt, dass unsere beiden Länder durch solche Beziehungen noch viel näher zusammenkommen können‘, erwiderte Mr. Allen die Grußworte des Oberbürgermeisters. Der Bürgermeister und die Mitglieder des Rates der Stadt Darlington hatten dem Begleiter der englischen Gruppe besondere Grüße des guten Einverständnisses mit auf den Weg nach Mülheim gegeben. Mülheims Stadtoberhaupt überreichte Mr. Allen einen Bildband der Stadt Mülheim und Mrs. Allen einen Strauß Nelken in den Stadtfarben mit einer wertvollen Vase, zur Erinnerung an den Aufenthalt in der Ruhrstadt. Die englischen Jungen und Mädchen bekamen eine kleine Keramikschale mit dem Stadtwappen und dazu eine Plakette und das Festheft der diesjährigen Jugendfestspiele. Ein Beutel mit Obst und Leckereien fehlte nicht. Nach einem Erfrischungstrunk stieg alles auf den Rathausturm, um die Ruhrstadt auch von oben kennenzulernen.“

Vom Jugendaustausch zu den Bürgerfahrten

Die Jugendlichen aus Darlington und Mülheim, die sich im August 1953 an der Ruhr kennen lernten, wuchsen in damals noch industriell geprägten Städten auf. Sie knüpften Freundschaften und gründeten Familien, mit denen sie später ihre Freunde in Darlington besuchten. Das war die Keimzelle der Bürgerfahrten.

Sie wurden zunächst vom Mülheimer Verkehrsverein, später vom Amt für Ratsangelegenheiten und Repräsentation und ab 1995 vom Förderverein Mülheimer Städtepartnerschaften organisiert.

Viel beachtet und unvergessen bleiben auch die von den Mülheimer Städtepartnern rund um die Jahrtausendwende organisierten Jugendtreffen, an denen nicht nur Mädchen und Jungen aus Mülheim und Darlington, sondern auch aus den Mülheimer Partnerstädten Tours, Kfar Saba, aus dessen palästinensischer Nachbargemeinde Qalqilya, aus Kuusankoski und Oppeln teilnahmen. Diese internationalen Jugendbegegnungen knüpften an das Mülheimer Jugendcamp an, an dem im Sommer 1963 jeweils 20 Jugendliche aus Mülheim, Darlington und dem 1962 zum Städtepartnerkreis dazugekommenen Tours teilgenommen hatten.

An den Bürgerfahrten beteiligten sich zeitweise bis zu 60 Mülheimerinnen und Mülheimer. Sie besuchten nicht nur Darlington, seinen Big-Ben-Bruder und sein Eisenbahnmuseum, das aus gegebenem Anlass 2025, im neuen Glanz strahlend, wiedereröffnet werden soll. Auch die Highlands von Northumberland, die Kathedrale in Durham und der Sonntagsmarkt in Newcastle gehörten zu den Programmpunkten der Bürgerfahrten in die nordenglische Partnerstadt, in der heute rund 108.000 Menschen leben.

Viele folgten den jungen deutsch-englischen Eisbrechern nach Darlington und Mülheim: Mitglieder des Deutschen Frauenrings und die Mitglieder ihrer Darlingtoner Partnerorganisation gehörten ebenso zu den praktizierenden StädtepartnerInnen wie junge VerwaltungsbeamtInnen, AmateursportlerInnen, KarnevalistInnen, BerufsschülerInnen, MusikerInnen, AmateurfunkerInnen und Ratsmitglieder.

Große Stadtfeste, wie etwa zur Eröffnung des neuen Darlingtoner Rathauses (1967), der jetzt fußläufigen Schloßstraße (1974) oder zum 150. Jahrestag der weltweit ersten Eisenbahnfahrt zwischen Stockton und Darlington (1975) wurden gerne mit Gästen aus der jeweiligen Partnerstadt gefeiert. Das galt auch für Mülheims 175. und 200. Stadtgeburtstag in den Jahren 1983 und 2008.

In den Presseberichten über die offiziellen Städtepartnerschaftsbesuche aus Darlington spiegelt sich auch die deutsche Nachkriegsgeschichte. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass die Gäste aus Darlington ihren Mülheimer Gastgebern aus dem Rathaus Lob und Anerkennung für die vorbildlich arbeitenden und organisierten Schulen, Krankenhäuser, Jugendzentren, Pflegeheime und Industriewerke zollen. Und wenn der damalige Mülheimer Bürgermeister, Hermann Schmiedtke, im Angesicht seiner Gäste aus Darlington im Sommer 1962 erklärte: „Der Jugendaustausch hat auch eine politische Bedeutung aus der Sicht des europäischen Zusammenschlusses. Nicht nur Europa, der ganze Westen, muss sich zusammenfinden, um in der Auseinandersetzung mit dem Osten bestehen zu können. In 100 Jahren wird keiner mehr verstehen, dass es jemals zu kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa hat kommen können“, hört man daraus das Bangen und Hoffen zwischen Kriegsgefahr und Friedenssehnsucht. Leider können wir das auch im 70. Jahr der deutsch-englischen Städtepartnerschaft zwischen Darlington und Mülheim nur zu gut nachempfinden.

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