von: Jens Roepstorff
Einen großen Tag bescherte der berühmte Humanist und Arzt Albert Schweitzer der Stadt Mülheim an der Ruhr, als er im Oktober 1959 während einer Europareise hier Station machte. Der Anlass des Abstechers war eigentlich privater Natur. Wie bereits 1952, als er nach der Annahme des Friedensnobelpreises im Rahmen einer Rundreise durch Europa Mülheim besucht hatte, kam Schweitzer auch 1959 mit der Absicht, dem Grab seiner Freundin und Gönnerin Annie Fischer auf dem alten Friedhof an der Dimbeck einen Besuch abzustatten. Mit der Familie Fischer hatte ihn schon vor dem Ersten Weltkrieg zu seinen Straßburger Zeiten eine enge Freundschaft verbunden, die sich – Annie Fischer war eine geborene Stinnes – auch auf den Mülheimer Zweig der Familie Stinnes erstreckte. Annies Neffe Hugo Stinnes junior hatte schon 1905 als kleiner Junge die Bekanntschaft des späteren „Urwalddoktors“ gemacht und hielt den Kontakt sein Leben lang.
Am 8. Oktober 1959 stand für Albert Schweitzer neben dem Gang zum Mülheimer Altstadtfriedhof auch ein kurzer Besuch bei der Familie Stinnes in der Bismarckstraße an. Der Aufenthalt sollte eigentlich geheim bleiben und ohne große Öffentlichkeit vonstatten gehen. Jedoch erfuhr die Mülheimer Presse auf ungeklärte Weise im Vorfeld von dem geplanten Besuch und berichtete in groß aufgemachten Artikeln über das anstehende Ereignis. Motiviert durch die ausführliche Berichterstattung trat daraufhin der Direktor des Staatlichen Gymnasiums (heute: Otto-Pankok-Schule) Oberstudiendirektor Kurt Henke an Hugo Stinnes junior heran und bat ihn, einen Besuch des Nobelpreisträgers in seiner Schule zu vermitteln. Da Stinnes selbst ehemaliger Schüler dieses Gymnasiums war und einer seiner Söhne dort noch die Schulbank drückte, konnte er sich diesem Wunsch nur schwerlich entziehen. Und auch Albert Schweitzer, der als betagter Mann von 84 Jahren eigentlich ein straffes Programm und ein gewaltiges Pensum an Empfängen in ganz Deutschland noch vor sich hatte, schlug die Bitte nicht ab.
In der Aula des Staatlichen Gymnasiums wurde dem berühmten Besucher ein großer Empfang bereitet. Der Schulchor sang ihm zu Ehren und der Schulleiter Henke dankte ihm aufs Herzlichste für diesen improvisierten Besuch. In seiner an die Schülerschaft gerichteten Rede sprach Albert Schweitzer über die Bedeutung des Humanismus, ohne den „die Welt leer sei“, lobte Latein und Griechisch als „Grundlagen für ein Verständnis der Entwicklung unserer Kultur“ und wies auf die Bedeutung von Kultur hin, ohne die die Welt „ins Chaos gehen würde“. Als studierter Philosoph äußerte er die Hoffnung, dass eines Tages die Philosophie in den allgemeinen Fächerkanon der deutschen Gymnasien aufgenommen werde. Dieser Wunsch sollte sich Jahre später in der Tat erfüllen.
Gefeiert wie ein hoher Staatsgast und umringt von Autogrammjägern hatte Albert Schweitzer nach seiner Ansprache in der Aula des Gymnasiums Mühe, sich seinen Weg durch die vor der Schule zusammengekommenen Menschenmassen zu bahnen, um dann seine Reise durch Deutschland und weitere europäische Länder fortzusetzen.
(aus: Mülheimer Zeitzeichen, Veröffentlichungen des Stadtarchivs Mülheim an der Ruhr, Band 1)