von: Jens Roepstorff
Nachdem die Stadtverordneten in der Ratssitzung vom 10. April 1912 zunächst in öffentlicher Aussprache über diverse Bauangelegenheiten beraten hatten, eröffnete Oberbürgermeister Paul Lembke die sich daran anschließende „geheime“ Sitzung mit einem Antrag außerhalb der vorgesehenen Tagesordnung. Er wies darauf hin, dass der Unternehmer August Thyssen am 17. Mai des Jahres seinen 70. Geburtstag begehen werde und schlug vor, ihm aus diesem Anlass aufgrund seiner Verdienste um die Stadt Mülheim das Ehrenbürgerrecht zu verleihen. Der Vorschlag wurde von den Ratsmitgliedern einstimmig angenommen und der Oberbürgermeister wurde ermächtigt, gemeinsam mit der städtischen Finanzkommission alles Weitere zu veranlassen.
Bei der kunstgewerblichen Werkstatt für Buchbinderei Carl Schultze in Düsseldorf gab man einen Ehrenbürgerbrief in Auftrag, der auf edles Pergament gedruckt und anschließend von allen Stadtverordneten signiert werden sollte. Die Unterzeichnung wurde für den 16. Mai – Christi Himmelfahrt – terminiert. Ungeachtet des Feiertages hielt Oberbürgermeister Lembke die Stadtverordneten an, sich zwischen 9 und 15 Uhr zur Unterzeichnung im Rathaus einzufinden, damit am nächsten Tag die Auszeichnung planmäßig überreicht werden könne.
Zu diesem Zeitpunkt wohnte August Thyssen schon nicht mehr in (Mülheim-)Styrum, sondern residierte auf Schloss Landsberg im Ratinger Stadtgebiet. Eine städtische Abordnung begleitet von den beiden Industriellen Hugo und Gustav Stinnes sollte ihn dort an seinem Geburtstag – dem 17. Mai – aufsuchen und ihm die Urkunde überreichen. Da Thyssen jedoch aus Anlass seines Geburtstages einen Aufenthalt im Hotel Frankfurter Hof in Frankfurt am Main vorgesehen hatte, musste die geplante Zeremonie verschoben werden.
Fünf Tage später war es dann soweit: Am Nachmittag des 22. Mai empfing August Thyssen die städtische Delegation im Kreise seiner Familie auf Schloss Landsberg und nahm den Ehrenbürgerbrief entgegen. Er bedankte sich für die Auszeichnung und betonte, dass er sich seit 41 Jahren der Stadt Mülheim verbunden fühle und die zukünftige Entwicklung Mülheims mit großem Optimismus sehe. Er verkündete, als Zeichen seines Dankes ein Kaiserporträt für das neue Rathaus zu stiften, das dort den großen Sitzungssaal schmücken solle. Auf Einladung des frisch gekürten Ehrenbürgers folgte dann ein ausgedehntes Festmahl, das sich bis in die frühen Abendstunden erstreckte.
(aus: Mülheimer Zeitzeichen, Veröffentlichungen des Stadtarchivs Mülheim an der Ruhr, Band 1)