Von: Jens Roepstorff
Am 21. Januar des Jahres 1901 wird in Mülheim an der Ruhr eine Frau geboren, die später einmal die Welt faszinieren wird. Die kleine Clara Eleonore – später wird sie sich Clärenore nennen – ist das dritte von ingesamt sieben Kindern des Großindustriellen Hugo Stinnes und seiner Ehefrau Clara. Ihren beiden älteren Brüdern Edmund und Hugo junior will die kleine Clara Eleonore in nichts nachstehen. Ihrem Vater ringt sie das Zugeständnis ab, am Strand genau wie die Brüder Hosen tragen zu dürfen und auch sonst entspricht sie nicht den Vorstellungen einer „höheren Tochter“, so wie es ihre Mutter von ihr erwartet. Schon als Kind interessiert sie sich für die Geschäfte ihres Vaters. Nach dem Schulabschluss am Mülheimer Lyzeum (heute: Luisenschule) absolviert sie eine landwirtschaftliche Ausbildung und reist anschließend im väterlichen Auftrag neun Monate durch Südamerika, um dort die Besitztümer und Beteiligungen der Familie Stinnes einer Inspektion zu unterziehen.
Der plötzliche Tod Ihres Vaters 1924 nach einer mißglückten Gallenblasenoperation trifft sie hart. Ihre Brüder streiten sich um das Erbe und auch Clärenore beansprucht einen Platz im riesigen Firmenimperium, das der Senior hinterlassen hat. Es ist die Mutter, die Clärenore eine aktive Rolle im Unternehmen verweigert mit der Begründung, dies sei keine Arbeit für eine Frau. Verärgert packt die 23jährige ihre Sachen, zieht nach Berlin und gründet dort eine eigene kleine Handelsgesellschaft. Durch Veruntreuungen ihrer Geschäftspartner ist bald darauf das junge Unternehmen jedoch pleite.
Auf der Suche nach neuen Aufgaben kommt ihr das Angebot der Dinos-Automobilwerke gerade recht. Sie soll an einem Autorennen teilnehmen und so Werbung für das Unternehmen machen. Unter dem Pseudonym „Fräulein Lehmann“ nimmt Clärenore Stinnes teil und erreicht bei der Tour quer durchs Ruhrgebiet einen respektablen dritten Platz. Obwohl ihre Familie von dieser neuen Betätigung nicht begeistert ist, fährt die Stinnes-Tochter nun fast jedes Wochenende Rennen und zählt bald zu den besten europäischen Fahrern. Als sie 1925 als einzige Frau unter 52 Männern an einer Rallye quer durch Russland teilnimmt und am Ende den Sieg davonträgt, ist ihr Name in allen Zeitungen. Selbst die New York Times bringt einen Artikel über „Germany’s strangest girl“, die in Männerkleidung umherläuft, Autos liebt und Rennen fährt. Das klassische Rollenbild der Frau als Hausfrau und Mutter wird durch sie erschüttert.
Angespornt durch ihre Erfolge verfällt sie auf eine kühne Idee: Mit dem Auto einmal um die Welt. Ihre Familie ist entgeistert und fest entschlossen, der emanzipierten Tochter für diese Pläne keinerlei finanzielle Unterstützung zu gewähren. Doch die deutsche Autoindustrie sammelt 100.000 Reichsmark, die Adler-Werke stellen eine hochmoderne Limousine zur Verfügung und die diplomatischen Auslandsvertretungen des Landes werden mit Autoersatzteilen beliefert. Zwei Mechaniker und ein schwedischer Kameramann werden als Begleitung verpflichtet. Am 25. Mai 1927 ist es soweit: die „Amazone auf Gummi“ – so die Mülheimer Zeitung – bricht von Frankfurt am Main in Richtung Osten zu ihrem größten Abenteuer auf. 49.244 Kilometer wird sie zurücklegen, 23 Länder durchqueren, Hitze und Kälte trotzen, um mehr als zwei Jahre später am 24. Juni 1929 als gefeierte Pionierin nach Berlin zurückzukehren.