Autorin: Annett Fercho
Aus der Beschäftigung mit dem Schicksal der jüdischen Familie Rosenbaum entstand ein unerwartetes Projekt
Seit 2004 werden in Mülheim an der Ruhr Stolpersteine verlegt. Die Initiative ging damals von Schülern und Schülerinnen der Realschule Stadtmitte aus. Danach gründete sich ein ehrenamtlicher Arbeitskreis Stolpersteine, der in den 15 Jahren seines Bestehens über 168 Biografien erarbeitete und Stolpersteine im ganzen Stadtgebiet verlegte. Auch am Gymnasium Broich als Schule gegen Rassismus und für Toleranz engagierten sich Lehrer:innen und Schüler:innen an diesem Projekt. Dazu gehörte auch die damalige Lehrerin Doris von Bancels. Sie gründete eine außerschulische Arbeitsgemeinschaft Stolpersteine und besuchte mit ihren Schüler:innen das Stadtarchiv, wo sie die Lebensgeschichten von NS-Verfolgten recherchierten, Material sichteten, Informationen zusammentrugen, Biografien schrieben. Als Ergebnis ließen sie Stolpersteine verlegen und leisteten so einen aktiven Beitrag zur Erinnerungskultur in ihrer Stadt.
Fortsetzung der Spurensuche nach der Schule
David Bakum und Angelina Mehler machten 2018 ihr Abitur am Gymnasium Broich. Direkt danach stiegen Beide aus eigener Motivation in die Familiengeschichte von Arthur Rosenbaum ein. Die Biografie des Vaters und des Bruders hatte die AG Stolpersteine des Gymnasiums Broich ein Jahr zuvor erarbeitet und für sie Stolpersteine verlegen lassen. Dabei stießen sie auch auf den Bruder Arthur.
Vater war jüdischer Kommunist – Es blieb nur die Flucht
Dessen Schicksal und das seiner Frau Mathilde sowie der zwei Töchter, Hanne-Lore und Ingeborg wollten nun David Bakum und Angelina Mehler erforschen. Sie fanden umfangreiches Material im Stadtarchiv und in den Akten der Gestapo im Landesarchiv NRW. Arthur war wegen seiner politischen Aktivitäten, aber auch wegen seiner jüdischen Herkunft ins Visier der Gestapo geraten. Die Recherchen ergaben auch, dass die Familie 1939 aus Mülheim nach Belgien flüchten musste. Es bestand noch Hoffnung, mit der Tochter Ingeborg oder mit ihren Kindern in Kontakt treten zu können. Jedoch gab es keine aktuellen Daten. Inge – wie sie gerufen wurde – ist 1939 als Zwölfjährige von ihren Eltern nach Marokko geschickt worden. Ihre Eltern flohen kurze Zeit später nach Belgien. Die Gestapo war Arthur immer auf den Fersen. Hanne-Lore, die ältere Schwester von Inge, war 1938 im Alter von nur 14 Jahren in Mülheim an Diabetes gestorben. Ein Schicksalsschlag, den die Familie zusätzlich zu ihrer Flucht zu verkraften hatte. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen 1940 in Belgien wurde Arthur verhaftet ,inhaftiert und 1942 nach Auschwitz deportiert, wo er 1943 in den Gaskammern ermordet wurde.
Stolpersteine für Arthur und Mathilde – Aber was wurde aus Inge?
Wir hätten es vielleicht nie erfahren, wenn nicht Monique Charlesworth, eine der zwei Töchter von Ingeborg, Kontakt mit dem Stadtarchiv aufgenommen hätte. Das war im Mai 2019, kurz nach der Verlegung der Stolpersteine in der Eppinghofer Straße 134 für Arthur und Mathilde. Monique Charlesworth war auf den Stolperstein-Seiten des Stadtarchivs auf die Biografie zu der gerade für ihre Großeltern verlegten Stolpersteine gestoßen, weil sie sich selbst auf Spurensuche begeben hatte. Sie bedauerte sehr, dass ihre Mutter Inge die Stolpersteinverlegung nicht mehr miterleben konnte, weil sie wenige Monate vorher mit 92 Jahren in Frankreich-in Tours – gestorben war.
„Mother Country“ beschreibt Inges Leben
Für Monique Charlesworth – selbst Journalistin, Roman-und Drehbuchautorin – begann ab da die intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit ihrer Mutter, um zu verstehen, warum die Mutter voller Widersprüche war. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung hat sie in ihrem 2023 erschienenen Buch „Mother Country“ festgehalten. https://www.the-tls.co.uk/articles/mother-country-monique-charlesworth-book-review-natasha-lehrer/
Ein sehr beeindruckendes Buch, in dem sie die komplizierten Widersprüche, die in Inges Leben traumatisch gewirkt haben, spannend und sehr einfühlsam erzählt. Verständlich, authentisch und nachvollziehbar entschlüsselt sie, was die Ereignisse in Inges Kindheit und Jugend mit ihr gemacht haben, wie und warum die Mutter lebenslang ein Geheimnis über ihre deutsche und halbjüdische Identität machte.
Monique Charlesworth zu Gast im Haus der Stadtgeschichte
Später heiratete Inge ihre große Liebe, den Franzosen René Cocard, und lebte in Mülheims Partnerstadt Tours, wo sie 2019 verstorben ist. Mathilde wanderte nach dem Krieg nach Casablanca in Marokko aus, heiratete am 19.Juli 1947 den aus Gelsenkirchen stammenden Heinrich Steinberg und führte mit ihm eine lange und glückliche Ehe.