von: Hans-Dieter Strunck
Es muss ein besonderer Mensch gewesen sein, der am 30. Dezember 1954 um 14 Uhr bei strahlendem Sonnenschein auf dem alten Styrumer Friedhof an der Landwehr, 82-jährig, zu Grabe getragen wurde. Zahlreiche Styrumer Bürger und Abordnungen verschiedener Vereine begleiteten den Sarg. Aufgebahrt standen über zwei Gruften zwei Särge. Neben den sterblichen Überresten des Arztes Ernst Türk stand der Sarg seines ältesten Sohnes Ernst, der am Tage nach dem Tode des Vaters, nachdem er die Vorbereitungen für die Beisetzung des Vaters getroffen hatte, auf dem Heimwege mit dem Motorrad auf der Autobahn einem Unfall zum Opfer fiel.
Wer war Ernst Türk?
Wer war dieser Mann, der in der Kaiser-Wilhelm-Straße 5 sein zu Hause und seine Praxis hatte? Der Lehrersohn Ernst Türk wurde am 29. September 1872 in Rheydt (heute Mönchengladbach-Rheydt) geboren. Nach der Schulzeit mit abschließendem Abitur schrieb er sich an der Universität Marburg zum Studium der Medizin ein. Hier trat er dem Wingolfbund bei, einer christlichen, überkonfessionellen, farbentragenden, nichtschlagenden Studentenverbindung. Dort fand er gleichgesinnte Menschen, die mit seiner Weltanschauung harmonierten, die ihm, der aus christlichem Hause stammte, eine zweite Heimat boten. Unterbrochen wurde die Marburger Zeit für ein Semester in Kiel, wo er gleichzeitig sein halbes Jahr aktiven Militärdienst beim Seebataillon ableistete. Auch hier war er im Wingolf aktiv. Die Freundschaften aus dieser Zeit haben Ernst Türk ein Leben lang geprägt und begleitet. So waren die späteren Treffen mit alten Studienfreunden und jungen Semestern unter dem Titel „Mülheim-Styrumer-Ferienwingolf“ ein Höhepunkt im Jahr, zu dem Dr. Türk sein Sprechzimmer ausräumte, um eine „zünftige Kneipe“ steigen zu lassen. Unter seinen Freunden war er als „Pascha“ bekannt. Als infolge der Inflation in den 1920-er Jahren die Not unter den Aktiven wuchs, organisierte Dr. Türk den Einsatz von Wingolfbrüdern als Werkstudenten in Mülheimer Betrieben. Seine Frau half auch hier in rührender Weise bei der Unterbringung im eigenen Hause oder bei Freunden.
Eröffnung der Arztpraxis in der Kaiser Wilhelm Straße
Seine Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde befasste sich mit dem Thema „Über Nierentuberculose und ihre chirurgische Behandlung“. Der Doktortitel wurde ihm 1896 in Marburg verliehen. Ob er danach zunächst seinen Wehrdienst ableistete, wissen wir nicht, allerdings meldete er sich am 29. Dezember 1898 mit einem Militärpass in der damals selbständigen Gemeinde Styrum an. Er wohnte zunächst unter der Adresse Styrum III 72/3b, danach in der Mülheimer Straße 170 und ab 1903 in der Kaiser-Wilhelm-Straße 5 und eröffnete hier eine Praxis. Ob er schon vorher dem „Deutschen Flottenverein“ angehört hat, ist nicht bekannt. In Styrum jedoch wurde er Vorsitzender der Ortgruppe dieser Vereinigung, die ihre Veranstaltungen im „Lock’schen Saale“ abhielt. Von September 1919 bis April 1924 war er als Abgeordneter der Deutschen Volkspartei, der auch Stresemann und Stinnes angehörten, im Mülheimer Stadtrat aktiv. Wie wir aus den Sitzungsprotokollen wissen, kam er manchmal zu spät, oder war entschuldigt, weil seine Arbeitszeit die politische Arbeit nur eingeschränkt zuließ. In erster Ehe war er mit Emmy Zimmermann aus Düsseldorf verheiratet. Aus dieser ersten Ehe stammen die Kinder Magdalene und Ernst Türk, die beide in Mülheim geboren wurden. Nach dem Tode seiner Ehefrau heiratete er deren Schwester Lydia. Aus dieser Ehe gingen die Kinder Hermann, Hans und Werner hervor.
Patientenbesuch mit dem Fahrrad
Seine modernen Heilmethoden und seine unverkrampfte freundliche Art kamen bei den Patienten an. Schnell kannten den hochgewachsenen, schlanken Mann mit dem Kaiser-Friedrich-Bart nahezu alle Styrumer, wenn er mit dem Zweispänner oder bis ins hohe Alter mit dem Fahrrad zu seinen Patienten fuhr. Oft saß er viele Stunden, auch nachts, am Bett eines Kranken, dessen Hand haltend und Trost und Mut zusprechend. Als im ersten Weltkrieg jüngere Ärzte an die Front mussten, war der Andrang in seiner Praxis kaum zu bewältigen. Im Laufe des Krieges richtete er in der ersten Etage des Hauses eine Art Lazarett ein, in dem Verwundete gepflegt wurden. Seine Frau Lydia unterstützte ihn dabei partnerschaftlich – obwohl ja noch die Kinder im Hause waren. Als im Zweiten Weltkrieg die Bomben Teile unserer schönen Stadt zerstörten und die Toten des Luftkrieges in langen Reihen in der Kirche lagen, half Dr. Türk den Hinterbliebenen und tröstete sie. 1946 bestätigte die Universität Marburg „unter ehrender Anerkennung seiner Verdienste um die ärztliche Wissenschaft, den ärztlichen Stand und die leidende Menschheit “ seine 50 Jahre zuvor erworbene Doktorwürde,
Die Styrumer sagen: „He wuer en chudde Kähl..“
Ein alter Mann fährt, wie seit Jahrzehnten, auf seinem Fahrrad bei Wind und Wetter durch Styrum. Er hat sein 50jähriges Arztjubiläum gefeiert. Er hat aber auch wieder einmal fast alles durch die Geldentwertung verloren. Und er war schon vorher nicht reich an Geld und Gut, denn er nahm von den Ärmsten nichts und drängte niemanden. So arbeitete er weiter. Nach einer eigenen schweren Operation nur noch von seinem Arbeitszimmer aus. An seinem 80.Geburtstag nimmt der Strom der Besucher kein Ende. Dr. Türk war der gute Geist für viele Kranke über Jahrzehnte hinweg und überzeugt von der Wirkung homöopathischer Behandlungsmethoden und wurde deshalb auch zeitweise aus der Ärzteschaft ausgeschlossen. So verfasste er 1954 noch als 82-jähriger einen Beitrag in einer Fachzeitschrift und schilderte dort seine langjährigen Erfahrungen. 1952 erkrankte Ernst Türk schwer, erholte sich nur sehr langsam ein wenig und verstarb am 12. August 1954 in seiner Wohnung
Mülheim erhält die Dr.-Türk-Straße
Eine besondere Ehre wurde Dr. Ernst Türk posthum am 14. Dezember 1954 durch die Stadt Mülheim auf Antrag der Bezirksvertretung zuteil. Um die besondere Hilfsbereitschaft, seine Sorge um die ihm anvertrauten Menschen zu würdigen, wurde die vormalige von-der-Tann-Straße, zwischen Alvensleben- und Dümptener Straße, nach dem „Nothelfer“ in Dr.-Türk-Straße umbenannt.